[7]Einleitung
Konstruktiv streiten zu lernen ist ein zentrales Ziel demokratischer Erziehung und Bildung. Die Diskussion kontroverser Fragen und Streitthemen gilt als demokratische Praxis par excellence und zugleich als wichtige praktische Methode, um demokratiepädagogische Leitziele wie z. B. personale Autonomie, Respekt und Toleranz zu erreichen. Indem Schülerinnen und Schüler miteinander im Unterricht über kontroverse Fragen diskutieren, lernen und erfahren sie – so die Idee und das Ideal –, was es bedeutet, in einer liberalen Demokratie zusammenzuleben, und worauf eine funktionstüchtige Demokratie angewiesen ist. Sie lernen, über die Plausibilität und Geltung von Gründen zu diskutieren, dabei fragwürdige Überzeugungen zu überprüfen und Konsensmöglichkeiten abzuschätzen, aber auch mit Dissens zu leben und sich trotz Meinungsverschiedenheiten wechselseitig als freie und gleichberechtigte Personen zu respektieren. Die pädagogische Initiation in die Praxis des demokratischen Streits soll sie dazu befähigen, sich gemeinsam auf eine sachlich angemessene, zivile und tolerante Art und Weise über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu verständigen.1
In öffentlichen Schulen2 stellt die Diskussionpolitisch[8]relevanter Themen – also solcher Themen, die sich aufFragen und Probleme des Zusammenlebens in liberalen Demokratien beziehen3 – eine fächerübergreifende Aufgabe dar, die sich sowohl aus theoretischen als auch aus praktischen Gründen nicht nur auf den Politikunterricht oder nur auf gesellschaftswissenschaftliche Fächer (etwa Wirtschaft oder Geschichte) beschränken lässt. Diskussionen über kontroverse Fragen von politischer Bedeutung können praktisch in allen Fächern aufkommen und sind daher für alle Fächer relevant, sei es nun den Philosophie- und Ethikunterricht (Debatten über Sterbehilfe), den Biologieunterricht (Debatten über Evolution oder Sexualität), den Religionsunterricht (Debatten über Religionsfreiheit oder die Freiheit der Rede) oder den Deutschunterricht (in dem – zunächst themenungebunden – die mündliche Debatte und die schriftliche Erörterung eingeübt werden). Demokratische Erziehung und Bildung sind also Aufgaben, die sich nicht auf einzelne Fächer beschränken lassen. Hitzig geführte gesellschaftliche Debatten machen weder vor Fächergrenzen noch vor den Schultoren halt und finden auf die eine oder andere Weise ihren Weg in den Klassenraum, der kein politikfreier Raum ist.
[9]Es ist daher wenig verwunderlich, dass auch Fragen des angemessenen Umgangs mit kontroversen Themen im Unterricht selbst ein umkämpfterGegenstand von wissenschaftlichen und öffentlichen Kontroversen sind: Wie sollen z. B. Lehrkräfte mit konfliktbeladenen und polarisierenden Themen wie Klimawandel, Migration oder geschichtsrevisionistischen Postulaten von rechtspopulistischen Politikern im Unterricht umgehen? Wie können Schüler lernen, konstruktiv mit solchen Streitthemen umzugehen? Folgt aus der Etablierung von rechtspopulistischen Argumentationen in öffentlichen Debatten, dass diese im Unterricht gleichberechtigt mit anderen politischen Positionen diskutiert werden müssen? Dürfen Lehrerinnen und Lehrer ihre eigene politische Meinung im Unterricht offenlegen? Können oder sollen sie politisch neutral bleiben? Wie sollten sie sich zu politischen Konflikten verhalten, wo liegen die Grenzen der Meinungsfreiheit im Unterricht?
Diese Fragen verweisen auf eine Reihe von politischen und pädagogischen Herausforderungen, die in den letzten Jahren insbesondere aufgrund der Erfolge rechtspopulistis