: Justine Hussong, Heike Sambach, Monika Equit, Alexander von Gontard
: Enkopresis und Obstipation bei Kindern Das Therapieprogramm 'Auf's Klo - Wieso?' zur Darmschulung
: Hogrefe Verlag GmbH& Co. KG
: 9783844429831
: 1
: CHF 31.90
:
: Psychologie
: German
: 182
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Für die Behandlung von Enkopresis und Obstipation stehen wirksame, evidenzbasierte Methoden zur Verfügung, die für die meisten Patienten ausreichen. Allerdings gibt es eine Gruppe von Kindern, die nicht 'sauber' wird, d.h. nicht die Kontinenz als Behandlungsziel erreicht. Das vorliegende Manual wurde speziell zur Behandlung von Kindern entwickelt, die unter einer solchen therapieresistenten Enkopresis und/oder Obstipation leiden. Das Therapieprogramm eignet sich für Vor- und Grundschulkinder und kann sowohl im Einzel- als auch im Gruppenkontext durchgeführt werden. In 7 Sitzungen werden den Kindern spielerisch Informationen zu Anatomie, Pathophysiologie des Störungsbildes, Toilettennutzung sowie gesundem Essen und Trinken vermittelt. Zudem werden die Themen Stress und Stressregulation behandelt. Fragebögen und Übungen unterstützen die Reflexion und Selbstwahrnehmung der Kinder und erleichtern den Transfer des Gelernten in den Alltag. Die zahlreichen farbig illustrierten Arbeitsmaterialien können direkt von der beiliegenden CD-ROM ausgedruckt werden.

|19|Kapitel 2
Obstipation


2.1  Definition und Klassifikation


Nach den ROME-IV-Kriterien der pädiatrischen Gastroenterologen wird bei Kindern, die mindestens 4 Jahre alt sind, eineFunktionelle Obstipation (H3a) diagnostiziert, wenn mindestens zwei der folgenden Symptome mindestens einmal pro Woche über 1 Monat lang auftreten und andere körperliche Ursachen (u. a. Reizdarmsyndrom) ausgeschlossen werden können (Hyams et al., 2016):

  1. zwei oder weniger Defäkationen pro Woche in die Toilette,

  2. mindestens eine Episode von Stuhlinkontinenz pro Woche,

  3. retentive Sitzhaltung oder exzessives willkürliches Zurückhalten von Stuhl,

  4. harte oder schmerzhafte Stühle,

  5. große Stuhlmassen im Rectum,

  6. großkalibrige Stühle, die die Toilette verstopfen können.

Auch bei Kindern unter 4 Jahren kann eine Obstipation diagnostiziert werden. Hierzu habenBenninga et al. (2016) ebenfalls ROME-IV-Kriterien für diefunktionelle Obstipation (G7) bei Säuglingen und Kleinkindern publiziert. Diese unterscheiden sich von den ROME-IV-Kriterien für ältere Kinder nur dahingehend, dass Kriterium 2 (Stuhlinkontinenz) und Kriterium 6 (großkalibrige Stühle) nicht bzw. nur bei Kindern, die schon die Toilette benutzen, berücksichtigt werden. Auch hier müssen die Kinder mindestens 2 der Kriterien mindestens 1 Monat lang erfüllen (Benninga et al., 2016).

Die ROME-IV-Kriterien sollten in der Forschung verwendet werden, für den klinischen Alltag können sie zu streng sein. Von daher sollte bei der Untersuchung immer der klinische Eindruck mit in die Beurteilung eingehen.

In der ICD-10 wird die Obstipation (K59.0) unter den Krankheiten des Verdauungssystems geführt und zu den sonstigen funktionellen Darmstörungen gezählt (Deutsches Institut für Medizinische Information und Dokumentation, 2019). In den klinisch-diagnostischen Leitlinien zu den psychischen und Verhaltensstörungen nach ICD-10 wird auf die Obstipation lediglich im Zusammenhang mit der Differenzialdiagnose bei Enkopresis eingegangen, diagnostische Kriterien oder zeitliche Vorgaben werden nicht genannt (vgl.WHO/Dilling et al., 2015).

In der Vorabversion derICD-11 wird die funktionelle Obstipation (functional constipation, DD91.1) zu den funktionellen gastrointestinalen Störungen gezählt. Die Störung wird diagnostiziert bei Symptomen einer persistierend schwierigen, seltenen oder gefühlt inkompletten Defäkation und nach Ausschluss eines Reizdarmsyndroms (ICD-11 Coding Tool, 2019).

2.2  Prävalenz


Die Obstipation ist ein häufiges Problem im Kindes- und Jugendalter. Einer neueren Metaanalyse zur Prävalenz der funktionellen Obstipation (nach ROME-III-Kriterien) bei Kindern zwischen 0 und 18 Jahren zufolge liegt die weltweite gepoolte Prävalenz bei 9.5 %, jedoch schwankten die Zahlen der einzelnen Studien zwischen 0.5 und 32.2 % (Koppen et al., 2018). Insgesamt unterscheidet sich die gepoolte Prävalenz nicht signifikant zwischen Mädchen und Jungen (8.9 % vs. 8.6 %).

Einen signifikanten Unterschied gibt es aber in der geografischen Herkunft: Die Prävalenz der Obstipation in Asien betrug 6.3 %, wohingegen 13.3 % in Zentral- und Südamerika und 12.4 % in Europa und Nordamerika betroffen waren (Koppen et al., 2018).

|20|Die Prävalenzunterschiede zwischen Kindern unter und über 4 Jahren (17.5 % vs. 9.6 %) waren nicht signifikant (Koppen et al., 2018). Auch weitere Studien zeigen, dass die Raten von Obstipation bei Kindern schon im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter erhöht sind (Mota, Barros, Santos& Matijasevich, 2012;von Gontard, Moritz, Thome-Granz& Equit, 2015).

Bei etwa der Hälfte aller chronisch obstipierten Kinder beginnt die Symptomatik schon im 1. Lebensjahr (van den Berg, Benninga& Di Lorenzo, 2006). Ein systematisches Review fand Prävalenzen von Obstipation bei Kindern unter 2 Jahren von 4.5 %, wobei es einen signifikanten Anstieg vom 1. zum 2. Lebensjahr gibt (2.9 % vs. 10.1 %). Die Symptomatik in diesem Alter zeigt sich hauptsächlich darin, dass die Kinder harte Stühle und Schmerzen haben, Stuhl zurückhalten und Stuhlmassen im Rectum sichtbar sind. Die Anzahl der Stuhlgänge pro Woche ist nicht reduziert (ca. 6-mal/Woche;Loening-Baucke, 2005). Turco et al. fanden sogar noch höhere Raten bei Säuglingen von 11.6 %, 13.7 % und 10.7 % im Alter von 3, 6 und 12 Monaten. Zudem blieb bei vielen die Symptomatik stabil: 23.3 % der Säuglinge, die im Alter von 3 Monaten verstopft waren, waren dies auch im Alter von 12 Monaten (Turco et al., 2014). Im Alter von 24 bzw. 48 Monaten werden Prävalenzen von 27.3 % und 30.8 % angegeben. Die häufigsten Symptome sind harte Stühle, Skybala (Stuhlsteine) und Schwierigkeiten beim Absetzen von Stuhlgang (Mota et al., 2012).

Die Obstipation geht oft mit weiteren Ausscheidungsstörungen einher. Etwa ein Viertel der obstipierten Kinder haben eine Stuhlinkontinenz, ca. 11 % haben eine funktionelle Harninkontinenz (Einnässen tags;Kajiwara, Inoue, Usui, Kurihara& Usui, 2004;Timmerman, Trzpis& Broens, 2019).

2.3  Ätiologie


Bei der Entstehung der Obstipation können mehrere Faktoren eine Rolle spielen. Die wichtigsten werden im Folgenden aufgeführt.

Die chronische Obstipation entwickelt sich bei etwa der Hälfte der betroffenen Kinder im 1. Lebensjahr. Meist liegt die Ursache in einer akuten Obstipation, die nach der Nahrungsumstellung von Muttermilch auf Babynahrung auftreten kann. Eltern von betroffenen Kindern berichten in ca. 45 % der Fälle dies als Ursache für die Obstipation ihres Kindes (van den Berg et al., 2006). Bei älteren Kindern kann eine akute Obstipation auch aufgrund einer körperlichen Erkrankung, psychischen Belastungssituation oder eines situativen Zurückhaltens (z. B. in der Schule, während einer Klassenfahrt) entstehen. Durch den längeren Verbleib des Stuhles im Enddarm wird ihm über die Schleimhaut mehr Wasser entzogen und er bekommt eine härtere Konsistenz, was die Ausscheidung erschwert. Die harten Stühle und Schmerzerfahrungen bei der Defäkation (z. B. durch Schleimhautverletzungen) führen dazu, dass Kinder aus Angst vor weiteren Schmerzen beginnen, den Stuhl zurückzuhalten. Unbehandelt führt die dauerhafte Retentionshaltung zu einem Teufelskreis und zur chronischen Obstipation (Hyams et al., 2016).

Sauberkeitserziehung

Ein früher Beginn des Sauberkeitstrainings vor dem 24. Lebensmonat ist assoziiert mit einer Obstipation im Alter von 2 Jahren und auch mit dem Persistieren der Symptomatik bis zum 48. Lebensmonat (van den Berg et al., 2006). Eine aktuelle Analyse der ALSPAC-Daten zeigte, dass der späte Beginn eines Sauberkeitstrainings nach dem 24. Lebensmonat signifikant mit dem späteren Auftreten einer Stuhlinkontinenz mit Obstipation assoziiert ist, jedoch nicht mit einer Obstipation ohne Einkoten (Heron et al., 2018). Umgekehrt ist die Obstipation ein Risikofaktor für ein späteres Toilettenverweigerungssyndrom (vgl.Kapitel 3.1;Blum, Taubman& Nemeth, 2004a).

Genetische Faktoren

Die Obstipation tritt oft familiär gehäuft auf. Wenn ein Elternteil eine Obstipation hat, ist das Risiko, dass das Kind ebenfalls betroffen ist, 6- bis 12-fach erhöht. Die Konkordanzrate bei monozygotischen Zwillingen ist 4-fach höher als bei dizygotischen Zwillingen (70 vs. 18 %) (Bakwin& Davidson, 1971). Auch neuere Studien zeigen, dass das Risiko einer Obstipation beim Kind deutlich höher ist, wenn ein weiteres Familienmitglied betroffen ist (Inan et al., 2007;Park, Bang& Cho, 2016).

Trotz der Hinweise, dass genetische Faktoren bei der Entstehung der Obstipation beteiligt sind,...