: Christa Büker
: Pflegende Angehörige stärken Information, Schulung und Beratung als Aufgaben der professionellen Pflege
: Kohlhammer Verlag
: 9783170386884
: 3
: CHF 24.50
:
: Pflege
: German
: 170
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Tagtäglich kümmern sich zahlreiche Angehörige zu Hause um hilfe- und pflegebedürftige Familienmitglieder. Die Versorgung einer pflegebedürftigen Person ist häufig mit hohen Anforderungen und vielfältigen Belastungen verbunden. Die Leistung pflegender Angehöriger findet jedoch selten angemessene Würdigung und viele Angehörige erfahren nur eine unzureichende Beachtung ihrer eigenen Bedürfnisse. Der professionellen Pflege kommt eine zentrale Rolle in der Unterstützung häuslicher Pflegearrangements zu. Das Buch stellt dar, wie Pflegefachpersonen durch Information, Einzel- und Gruppenschulungen sowie Beratung pflegende Angehörige wirksam unterstützen können. Neu in der überarbeiteten 3. Auflage ist die Vorstellung von speziellen Internetportalen für pflegende Angehörige, von Möglichkeiten der Online-Beratung und der Begleitung von Angehörigen bei Entscheidungsfindungen.

Prof. Dr. Christa Büker, Gesundheitswissenschaftlerin (MPH), Dipl.-Pflegemanagerin, Krankenschwester. Sie arbeitet als Professorin für Pflegewissenschaft an der Fachhochschule Bielefeld.

 

1          Situation pflegender Angehöriger


 

 

 

Zum besseren Verständnis der Bedarfs- und Problemlagen pflegender Angehöriger soll in diesem ersten Kapitel ein kurzer Einblick in ihre Lebens- und Belastungssituation gegeben werden. Zugleich wird aufgezeigt, in welchen Bereichen Angehörige am dringendsten einer Unterstützung bedürfen.

»Angehörige« und »Familie« begriffliche Klärung

Zuvor gilt es noch zu klären, wer nachfolgend gemeint ist, wenn von »Angehörigen« gesprochen wird. In diesem Buch wird nicht generell ein enges Verwandtschaftsverhältnis zwischen einer pflegebedürftigen Person und den Personen, die sich um sie kümmern, vorausgesetzt. Hilfeleistungen erfolgen in zunehmendem Maße auch durch Wahlverwandte, Lebenspartner, Freunde, Nachbarn und andere nahe Bezugspersonen aus dem privaten Umfeld. Demzufolge schließt der Terminus »Angehörige« alle Personen ein, die sich einem pflegebedürftigen Menschen verwandtschaftlich und/oder emotional verbunden fühlen und im Spannungsfeld zwischen Fürsorge und Verpflichtung (Bauernschmidt& Dorschner 2018, S. 307) Hilfe, Pflege und Betreuung leisten. Ebenso ist der Begriff der »Familie« zu betrachten, entsprechend der Definition von Friedemann& Köhlen (2017), nach der die Familie einer bestimmten Person aus all jenen Mitmenschen besteht, mit denen sich die Person verbunden fühlt und Kontakt pflegt. Auch hier ist nicht unbedingt die unmittelbare verwandtschaftliche Beziehung ausschlaggebend für das Zusammengehörigkeitsgefühl von mehreren Personen als Familie.

1.1       Pflege in der Familie


Pflegebedürftige Menschen in Deutschland

In Deutschland gelten 4,1 Millionen Menschen als pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes (Statistisches Bundesamt 2020). Seit 1999 hat sich ihre Zahl verdoppelt. Diese Entwicklung ist zum einen der demografischen Entwicklung, zum anderen aber auch der vor einigen Jahren erfolgten Änderung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs geschuldet. Die zunehmende Alterung unserer Gesellschaft wird mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass sich die Zahl der Pflegebedürftigen in den kommenden Jahren weiter erhöht. Der weitaus größte Teil von ihnen sind ältere Menschen: 80 % von ihnen sind 65 Jahre und älter, 34 % sind 85 Jahre und älter. Bei der Gruppe der 85- bis unter 90-jährigen sind 49 % pflegebedürftig (ebd.). Daran wird sichtbar, dass mit zunehmendem Alter das Risiko, pflegebedürftig zu werden, steigt.

Pflege zu Hause und im Heim

Mehr als 3,3 Millionen der als pflegebedürftig anerkannten Menschen (80 %) werden zu Hause versorgt; ca. 818.000 Pflegebedürftige (20 %) leben in Heimen (ebd.). Von den häuslich versorgten Personen erhalten wiederum ca. 2,2 Millionen ausschließlich Pflegegeld, d. h. sie werden in der Regel allein durch Angehörige oder sonstige Pflegepersonen versorgt und betreut. Knapp 983.000 Pflegebedürftige werden durch ambulante Pflegedienste unterstützt, aber auch hier ist es in vielen Fällen die Familie, die den Großteil der Versorgung leistet.

Hervorgerufen wird die Pflegebedürftigkeit oftmals durch chronisch-degenerative Erkrankungen; viele der Betroffenen sind mehrfach erkrankt (Multimorbidität). Langjährige Krankheitsverläufe sind keine Seltenheit, mit entsprechenden Konsequenzen für die Versorgungsgestaltung und das Leben der gesamten Familie (Schaeffer 2006). Der Hilfebedarf gestaltet sich häufig sehr umfangreich und umfasst die Hilfe bei der Haushaltsführung, körperbezogene Unterstützung und spezielle pflegerische Maßnahmen, Begleitung zu Arztbesuchen, Ermöglichung sozialer Kontakte, emotionale Unterstützung sowie im Falle kognitiver Beeinträchtigung eine mitunter permanente Beaufsichtigung.

Stabilität häuslicher Pflegearrangements

Die Pflegebereitschaft von Familien zeigt sich seit etlichen Jahren ungebrochen hoch. Betrachtet manTab. 1, wird ein Trend zur professionellen Pflege in Pflegeheimen oder durch ambulante Pflegedienste nicht erkennbar:

Tab. 1: Pflegebedürftigkeit und Versorgungsform im Zeitvergleich (Statistisches Bundesamt 2001 und 2020)

Diese nüchternen Zahlen entkräften das hartnäckige Vorurteil, pflegebedürftige Menschen würden häufig in ein Heim »abgeschoben«. Sie zeigen vielmehr, dass die meisten Pflegebedürftigen so lange wie möglich in der Familie versorgt werden und die häuslichen Pflegearrangements bemerkenswert stabil sind. Inwieweit sie als Beleg für den Erfolg gesundheitspolitischer Maßnahmen im Sinne des Grundsatzes »ambulant vor stationär« gewertet werden können, muss allerdings dahingestellt bleiben, denn es ist weniger das Angebot an ambulanten Dienstleistungsstrukturen, welches den Verbleib pflegebedürftiger Menschen in der häuslichen Umgebung sichert, sondern die beeindruckend hohe Pflegebereitschaft von Familien. Inwieweit diese in Zukunft jedoch aufrechterhalten werden kann, darf angesichts gesellschaftlicher und demografischer Entwicklungen bezweifelt werden.

Hauptpflegeperson

Im Durchschnitt sind in den Familien zwei Personen an der Betreuung eines pflegebedürftigen Menschen beteiligt, bei einem Drittel der Fälle ist es sogar nur eine Person (Gräßel& Behrndt 2018; Rothgang& Müller 2018). Hierin spiegelt sich die soziale Veränderung unserer Gesellschaft: Immer kleiner werdende Familien und die räumliche Trennung der Generationen führen dazu, dass die »Last der Pflege« sich auf eine Hauptpflegeperson konzentriert.

Die Hauptpflegeperson gehört in aller Regel zum engeren Kern der Familie. Bei verheirateten Pflegebedürftigen pflegt häufig der Ehepartner, bei verwitweten die Tochter oder der Sohn, bei pflegebedürftigen Kindern ist es die Mutter, die sich für das Pflegegeschehen zuständig zeigt. In etwa zwei Drittel aller Fälle ist die Hauptpflegeperson weiblich. Der Anteil der Männer nimmt seit einigen Jahren zu. Sie treten zumeist in Erscheinung, wenn es sich um die Pflege ihrer Ehefrau/Partnerin handelt.

Die meisten Hauptpflegepersonen befinden sich im Alter zwischen 50 und 70 Jahren, das Durchschnittsalter beträgt 59 Jahre (ebd.). Damit pflegt gar nicht mehr unbedingt die so genannte »Sandwich-Generation«, also jene, die sowohl noch eigene, jüngere Kinder als auch die Eltern zu versorgen hat. Vielmehr findet Pflege hauptsächlich innerhalb der älteren Generation statt. Es sind in erster Linie Menschen in der »dritten Lebensphase«, die jene in der »vierten Lebensphase« pflegen (Schneekloth 2006, S. 408). Dementsprechend steht der größte Teil der pflegenden Angehörigen nicht (mehr) im Erwerbsleben. Allerdings sind es immerhin noch 30 40 % der Hauptpflegepersonen, die in mehr oder weniger großem Umfang einer Berufstätigkeit nachgehen und damit einer Mehrfachbelastung von Arbeit, Familie, Haushalt und Pflege unterliegen. Nicht wenige Angehörige reduzieren wegen der Pflege ihre Arbeitszeit oder müssen sie ganz aufgeben. Ein nicht unerheblicher Teil der Hauptpflegepersonen (ca. 10 %) ist übrigens älter als 80 Jahre. Dabei geht es in aller Regel um die Partnerpflege. Diese Pflegearrangements mit hochaltrigen Beteiligten werden bezogen auf die Unterstützungsleistungen viel zu wenig beachtet, obwohl sie ausgesprochen fragil sind und jederzeit zusammenbrechen können.

Pflege als Selbstverständlichkeit

Die Übernahme der Pflege wird von den Familien und der Gesellschaft häufig als Selbstverständlichkeit betrachtet. Zentrale Motive sind Liebe und Zuneigung zur pflegebedürftigen Person, Vertrautheit und Familienzusammenhalt, aber auch Pflichtgefühl sowie der Wunsch, etwas zurückgeben zu wollen (Bestmann et al. 2014). Weitere Gründe liegen in religiösen Überzeugungen bzw. Wertvorstellungen oder finanziellen Erwägungen vor dem Hintergrund der hohen Kosten einer professionellen Versorgung. Eine Rolle spielen ferner die Erwartungen anderer, sowohl der übrigen Familienmitglieder oder Nachbarn als auch die des Pflegebedürftigen selbst. Ein Großteil der pflegebedürftigen Menschen lehnen es ab, von jemand anderem gepflegt zu werden (Rothgang& Müller 2018).

Häufiges Fehlen einer bewussten Entscheidung zur Übernahme der Pflege

Eher selten wird der Entschluss zur Pflege bewusst gefällt, insbesondere wenn sich Pflegebedürftigkeit schleichend entwickelt. Geht es zunächst nur darum,...