: Verena Stauffer
: Geschlossene Gesellschaft
: Frankfurter Verlagsanstalt
: 9783627023027
: 1
: CHF 13.40
:
: Erzählende Literatur
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Stauffer verwebt die Schilderung von Erlebtem und Imaginiertem geschickt - und findet damit eine poetische Sprache fu?r die seltsamen Gefu?hlszustände während des Lockdowns.« Die Presse Nur scheinbar folgen die zwischen Realität und Traum oszillierenden Aufzeichnungen ihrer äußeren Chronologie, beginnend im November 2020 in Wien, sogleich nämlich emanzipiert sich der Text, führt zu einer tieferen Ebene in ein fantastisches Uhrwerk, dessen Zeiger stillstehen: Wir folgen der Erzählerin auf Spaziergänge im menschenleeren Prater und flanieren durch die nächtliche, gesperrte Stadt, genaue Beobachtungen wechseln sich ab mit kleinen scharfen Sequenzen und lyrischen Passagen. In welchem Paradies lebten wir - aus heutiger Perspektive betrachtet - und was wird im Sommer sein? »Verena Stauffer findet stimmungsvolle Worte fu?r einen Ausnahmeszustand. Es ist ein Buch voller subtiler und stiller Schönheit, voller Wortpoesie und Wortklang; und außerdem äußerst abwechslungsreich.« Karoline Pilcz, Buchkultur  »Die niederösterreichische Schriftstellerin hat ein realistisches Gerüst gebaut. Auf dem steht sie ab November 2020 und stellt fest, dass die Pandemie Fehler in der Gesellschaft offenbart. Dabei wechselt sie ins Surreale. Stauffers oft lyrischer Ton sorgt dafür, dass man nun den Schnee hören kann und die Engel über dem Wienfluss sieht. Trotz (wegen) der Fantasien wird unsere Zeit eingefangen, und man fürchtet, dass nachher keine neue Welt entsteht, sondern die alte zurückkehrt.« Peter Pisa, Kurier

Verena Stauffer, geboren 1978 im oberösterreichischen Kirchdorf an der Krems, veröffentlichte 2018 ihren Debütroman »Orchis«, der für den Literaturpreis Alpha, die Hotlist der Independents und den Blogger-Debütpreis nominiert war. Zuletzt erschien ihr Gedichtband »Ousia« bei Kookbooks, der für den Österreichischen Buchpreis nominiert wurde. Stauffer lebt abwechselnd in Wien, Berlin und Moskau.

11. Januar 2021


Ich verlasse die Stadt. Fahre Richtung Westen, einem tangerinefarbenen Sonnenuntergang entgegen. Bäume und Wälder von Schnee bedeckt, Luft und Fahrbahn trocken. In meinem Kopf schwirren Gedankenfalter, so dass ich während der zweistündigen Fahrt nicht einmal das Radio einschalte. Ich fahre zu Z, einem Freund aus meiner Heimat. Er ist Industrieller, wohnt in einer Villa am Fluss meiner Kindheit. Sein Anwesen mitsamt dem Betriebsgelände ist groß wie ein halber Ortsteil. Das Unternehmen existiert seit über vier Jahrhunderten, Sensen wurden früher geschmiedet, heute produziert man andere Teile. Neben seiner Villa gibt es mehrere Gebäude, unter anderem zwei Herrenhäuser, eines von beiden wurde vor wenigen Jahren renoviert, in ihm befinden sich Büroräume, im anderen lagern Möbelstücke, Geschirr und Kunstwerke, die sich über Jahrhunderte angesammelt haben. Mein Lieblingsstück ist ein sehr alter Hausaltar, der voller kleiner Schätze, Guckkastenbildchen, Heiligenfiguren, Kettchen, Engelchen und mit Blumen aus Eisen geschmückten Kreuzen ist. In der Mitte steht eine zierliche Monstranz. Der Altar ist ein Holzkasten, der, wenn man ihn öffnet, knarrt und einen Duft von längst vergangenen Zeiten ausströmt. Ich glaube, in dem Kasten riecht es so, wie es vor vierhundert Jahren gerochen hat. Vor ein paar Wochen schrieb ich an Z: »Sag, hast du einen Teppich für mich? Hier in meiner neuen Wohnung wärmt sich der Boden nicht auf, so sehr ich auch heize …« »Sicher«, antwortete er. »Wirklich?«, schrieb ich. »Ja, klar!«

Wann immer ich Z besuche, ist ein Programmpunkt, durchs alte Herrenhaus zu gehen und zu stöbern. Tausende Bücher, Tische, goldverzierte, glitzernde Bilder, Spielsachen aus nahen und fernen Ländern, Eierlöffelchen aus Perlmutt, geschliffene Champagnerkelche, geschnitzte Christusfiguren, ebensolche heilige Nikoläuse oder auch ein heiliger Franziskus aus Holz und viele andere Typen und Figuren aus Gold oder Messing. Ohrensessel, Gitterbettchen, Kinderwiegen und Wägen, ein kleiner Schaukelelefant aus Afrika, ein Fake-Buch, in dem Schnapsgläser versteckt waren, überall Badezimmer in verschieden Farben, von rosa bis mint, von vergoldet bis creme mit Muschelarmaturen oder kunstvollen Ornamenten.

Das Fake-Buch gefällt Z am besten, jedes Mal zeigt er es mir, er liest selbst nicht, da macht es ihm besondere Freude, mich auf diese Weise zu provozieren: »Schau, das is’ mein Schnapsbuch, da les ich oft drin«, sagt er und kommt dabei aus dem Lachen nicht heraus, klappt es ganz nah vor meinen Augen auf und zu, auf und zu. Danach tue ich ihm den Gefallen und wir trinken einen Schnapsbuchschnaps, nicht, ohne dass ich ihm beim Anstoßen sage: »Ohne Literatur gäbe es auch dieses Buch nicht.« Daraufhin ist er zwar für einen Moment enttäuscht, lacht dann aber doch weiter.

Der Fluss meiner Kindheit fließt durch seinen Park, vom mit Mosaik ausgelegten Hallenbad aus hört man ihn plätschern, weiter hinten steht ein Schießpulverturm – früher hatte die bürgerliche Gesellschaft Angst vor revoltierenden Bauern und wappnete sich gegen Angriffe – und im Park verteilt schaukeln Kastanien ihr Kronengebälk. Hinter den Herrenhäusern klettert man einen Weg durch Wald und Gebüsch, kommt zuerst zu einem Plateau, auf dem eine Tischtennisplatte steht, und von da aus geht es weiter hinauf zu einer Lichtung, in deren Mitte seine Villa gleichsam wie ein Pilz aus dem Boden herausgewachsen scheint. Sie steht da wie eine japanische Kirsche. »Denn wenn ich das richtige Wort nicht finde, finde ich ein anderes«, würde H. C. Artmann schreiben. Sie steht da wie ein Apfel, frei nach Magritte. Türmchen, Kupferdächer, Terrassen, Veranden, Säulen, neue Holzfenster nach altem Maß, meterhohe Räume, Holzöfen, weiße Orchideen blühen aus allen Nischen, Kamine – und von oben, vom Schlafzimmer, ein Panoramablick über das Dorf, in dem sie alle wohnen, die Dorfbewohner, über die es tausend Geschichten zu erzählen gibt. Ich denke nur an den Mayrhofer Gust, einen kleinen Mann mit langem Bart und buckeligem Rücken, der so einen starken Dialekt spricht, dass ihn niemand versteht, und immer ein selbstgebautes Fenst