1. KAPITEL
Rachel lehnte sich in die weichen Samtpolster der Kutsche zurück und unterdrückte nur mit Mühe ein Seufzen. Sie warf einen Blick auf Gabriela, die es sich in der Ecke ihr gegenüber gemütlich gemacht hatte und schon lange eingeschlafen war. Wie sehr beneidete sie doch das Mädchen um den leichten, unbeschwerten Schlaf der Jugend!
Trotz des eintönigen und ermüdenden Dahinratterns der Kutsche war es ihr bisher nicht gelungen, ebenfalls Schlaf zu finden. Sie vermochte das seltsame Gefühl der Vorahnung, ja, der Panik nicht abzuschütteln, das sie gequält hatte, seitdem sie am gestrigen Morgen aus Westhampton abgereist waren. Als Michael ihr in die Kutsche geholfen hatte, war in ihr der dringende Wunsch aufgestiegen, sich zu ihm umzudrehen und ihm mitzuteilen, sie habe sich nun doch dazu entschlossen, ihre Reise noch ein weiteres Mal zu verschieben.
Aber natürlich war das nicht möglich gewesen. Sie hatte ihre Abfahrt bereits um drei Tage hinausgezögert und musste Gabriela nun unbedingt zu ihrem Vormund zurückbringen. Schließlich wurde die junge Dame sehnsüchtig in Darkwater erwartet.
Ein lauter Ruf, der draußen vor der Kutsche ertönte, riss Rachel aus ihren Gedanken. Sie zog neugierig den Vorhang ein wenig beiseite und schaute hinaus. Doch außer der düsteren Abenddämmerung und den Ästen einiger in der Nähe stehender Bäume, die sich undeutlich gegen das graue Licht abhoben, war nichts zu erkennen. Dann vernahm sie einen Ausruf des Kutschers, und für einen Augenblick schwankte das Gefährt gefährlich hin und her. Gleich darauf hörte sie einen ohrenbetäubenden Schuss aus einer Pistole. Mit einem entsetzten Aufschrei zog sie hastig den Vorhang wieder zu.
Die Stimme des Kutschers war deutlich zu verstehen, als er versuchte, die Pferde zu beruhigen und zum Stehen zu bringen. Schließlich hielten sie mit einem Ruck auch wirklich an. Rachel konnte sich gerade noch an der Lederschlaufe neben ihrem Sitz festklammern. Ihr gegenüber stieß Gabriela überrascht einen leisen Schrei aus und stürzte ungraziös nach vorn auf den Boden. Nachdem sie sich mühsam wieder aufgerichtet, hingesetzt und notdürftig ihren Rock glatt gestrichen hatte, guckte sie ihr Gegenüber aus großen Augen an.
„Was war das?“, flüsterte das Mädchen ängstlich. „Ist etwas passiert?“
„Ich weiß es nicht.“ Rachel gab sich die größte Mühe, ihre Furcht nicht allzu deutlich zu zeigen. Ihr fiel überhaupt kein triftiger Grund für den Schuss ein. Warum hatte der Kutscher die Pferde so abrupt anhalten lassen? Handelte es sich vielleicht gar um einen Überfall von Straßenräubern? Das konnte doch wohl kaum der Fall sein, denn gewöhnlich traf man solche Wegelagerer nicht so weit von London entfernt an – es lohnte sich nämlich nicht, hier im Norden des Landes auf die so selten vorüberfahrenden Kutschen zu warten.
Als nun draußen aufgebrachte Stimmen ertönten, ballte sie nervös die Hände zusammen. Ich muss tapfer sein, dachte sie, schließlich bin ich jetzt für Gabriela verantwortlich. Sie versuchte sich vorzustellen, was ihre Schwägerin Miranda in einer solchen Situation tun würde – oder ihre Freundin Jessica, die den Mut einer Soldatentochter besaß. Würden sie sich der Gefahr tollkühn stellen? Sie vermochte jedenfalls den verzweifelten Wunsch nicht zu unterdrücken, dass Michael sich doch entschlossen hätte, sie nach Darkwater zu begleiten, und nun hier neben ihr sitzen würde. Bestimmt hätte er ihr allein durch seine ruhige Präsenz Mut gemacht.
Der Kutschenschlag wurde aufgerissen, und eine schwarz gekleidete Gestalt stieg ein. Rachel gab sich alle Mühe, sich nichts von ihrer Angst anmerken zu lassen. Es ist ja bloß ein kleiner Mann, dachte sie erleichtert. Nur die düstere Kleidung und das Halstuch, das er sich über die untere Hälfte des Gesichts gezogen hatte, ließen ihn furchterregend wirken. Sie würde ihm einfach ihr Geld überlassen; damit würde er bestimmt zufrieden sein und bald wieder abziehen. Der Vorfa