: Jens Siegert
: Im Prinzip Russland Eine Begegnung in 22 Begriffen
: edition Körber-Stiftung
: 9783896845887
: 1
: CHF 13.20
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 232
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Es gibt Begriffe, die wir für typisch deutsch halten: Heimat etwa oder Abendbrot. Sie müssen nicht eindeutig sein, um gemeinsame Assoziationen und Erinnerungen hervorzurufen. Jens Siegert ist nach fast dreißig Jahren in Russland überzeugt: Über solche typischen Begriffe lässt sich auch ein unmittelbarer Zugang zur russischen Kultur, Lebensweise und Politik gewinnen. Manche dieser 22 Begriffe sind bekannt, wie der Eintopf Borschtsch; manche missverstehen wir, wenn wir z. B. die Datscha für einen Schrebergarten halten. Andere sind uns gänzlich fremd oder haben hier und da eine andere Bedeutung, wie z. B. Demokratie oder Held. Nicht zuletzt gehört dazu auch das Prinzip, in dem sich Grundsätzliches mit einem achselzuckenden Relativismus verbindet. 'Im Prinzip Russland' eröffnet Einblicke in das russische Fühlen, Denken und Handeln. Indem er Verhaltensweisen und politische Entscheidungen aufschlüsselt, macht Siegert klar: Wer die Russinnen und Russen beim Wort nimmt, beginnt Russland nahezukommen.

Jens Siegert ist Journalist und Politikwissenschaftler. Er lebt seit 1993 in Moskau und ist mit einer Russin verheiratet. Siegert arbeitete zunächst als Hörfunk-Korrespondent, von 1999 bis 2015 leitete er das Russland-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung. 2016 übernahm er am Moskauer Goethe-Institut für vier Jahre die Leitung des EU-Projekts 'Public Diplomacy. EU and Russia'. Siegert berät außerdem den Vorstand der Menschenrechtsorganisation MEMORIAL. Er veröffentlichte zahlreiche Artikel und Beiträge sowie 2018 das Sachbuch '111 Gründe, Russland zu lieben'.

1. Demokratie. Eine Affäre


Die russische Affäre mit derDemokratie blieb bisher eine eher unglückliche. Immer wenn das Land, meist in einer tiefen Krise, mit ein wenig Volksherrschaft liebäugelte, ließ die Restauration nicht lange auf sich warten. Die autoritären Herrscher verkündeten dann, nicht sie hätten das Land in die Krise geführt, sondern die demokratischen Irrwege hätten das Land in Unordnung und Chaos gestürzt. Das zeige nur ein weiteres Mal: Demokratie sei nichts für dieses so besondere Land. Das russische Volk sei für Demokratie nicht geschaffen, ja es wolle gar keine Demokratie, zumindest keine westliche. Es brauche eine harte, wenn auch väterlich-gütige Hand. So ein Riesenreich sei eben nur durch ein starkes, entschlossenes Zentrum zusammenzuhalten. Ansonsten drohe der Zerfall, schlimmstenfalls sogar das Ende Russlands. Als jüngster Beweis muss meist der Untergang der Sowjetunion herhalten, für den Michail Gorbatschow und seine Öffnungspolitik in der Perestroika verantwortlich gemacht werden. Den drohenden weiteren Zerfall Russlands, so diese Erzählung, habe nach den chaotischen 1990er Jahren unter Boris Jelzin erst der entschlossene Wladimir Putin aufgehalten, fast im Alleingang, in Tschetschenien und auch sonst. Kurz: Eine ernsthafte russische Affäre mit der Demokratie halten Restauratoren für eine fatale Mesalliance.

Demokratie seiein mühsames Lern- und Selbsterziehungsprojekt, das nicht über Nacht und erst recht nicht alleine durch externe Mächte installiert werden kann, schreibt die Historikerin Hedwig Richter in ihrem 2020 erschienenen BuchDemokratie. Eine deutsche Affäre. Auch Deutschland galt in dieser Hinsicht lange als unverbesserlich, die Deutschen als nichtfit oder garnicht geschaffen für Demokratie. Dieselben Argumente hört man immer wieder über Russland. In Russland, von Russinnen und Russen, aber auch außerhalb des Landes.

Doch der Reihe nach. Die Affäre mit der Demokratie beginnt in Russland, für ein europäisches Land ziemlich spät, erst im 20. Jahrhundert. Nach der Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 und einem stürmischen Wirtschaftswachstum am Ende des 19. Jahrhunderts wies das politisch in absolutistischer Herrschaft erstarrte Zarenreich am Beginn des 20. Jahrhunderts an allen Ecken und Enden Risse auf. Wegen seiner Unfähigkeit, auf die Herausforderungen der neuen Zeit zu reagieren, kam es 1905 zu einer ersten Revolution. Der Auslöser war ein Blutbad, das zaristische Truppen unter streikenden und demonstrierenden Arbeitern in der damaligen Hauptstadt St. Petersburg anrichteten, bei dem zwischen 200 und 1000 Menschen starben. Der Druck auf den reformunwilligen und vielleicht auch reformunfähigen Zaren Nikolaus II. wurde so groß, dass er einer Verfassung zustimmte – der ersten in der Geschichte Russlands. Daraufhin kam im Frühjahr 1906 das erste russische Parlament zusammen, dieDuma. Aber nur für 73 Tage, denn der Zar machte dem Spuk schnell ein Ende und löste die Versammlung wieder auf. Doch die Kräfte dieser Restauration währten nicht lange. Die Probleme, die zur Revolution von 1905 geführt hatten, bestanden ja weiter. Der zweite und der dritte Versuch erfolgten bereits 1907. Nachdem bei den Wahlen zur zweitenDuma die erstmals zugelassenen sozialistischen Parteien eine Mehrheit errungen hatten, änderte der Zar einfach das Wahlrecht zugunsten der Nationalisten und regierungstreuen Parteien in der drittenDuma. Die vierteDuma trat, ebenfalls mit konservativer Mehrheit, 1912 zusammen. Sie war nur pro forma ein Parlament und in ihrem Handlungsspielraum so eingeschränkt, dass es den absolutistisch-zaristischen Staat nicht weiter störte. In dieser Hinsicht glich diese erste russische Affäre mit der Demokratie eher einer Scheinehe.

Im Ersten Weltkrieg zeigte sich die russische Armee ihren Gegnern aus dem Deutschen und dem Habsburger Reich nicht gewachse