I. Erbschaft begreifen: Von Agrarland zu Wertpapieren
1. Erben: Internationale und interdisziplinäre Perspektiven
Säkularisierung und Verbürgerlichung von Erbe
Besonders in der Wissenschaftsgeschichte der Vererbung wurde deutlich, dass die Jahrzehnte vor der internationalen Etablierung der Genetik mehr Aufmerksamkeit erhalten sollten, um deren Entwicklung nach 1900 besser zu verstehen.[1] Der Fall der Ko-Evolution von Erbrecht und naturwissenschaftlicher Vererbung im Deutschen Kaiserreich ist speziell geeignet, um die sehr verwickelte moderne Vorstellung von Produktion und Reproduktion zu verstehen wie auch die Funktion der bürgerlichen Kernfamilie im Nationalstaat im Zusammenhang mit der Ökonomie der Vererbung nachzuvollziehen: Kaum irgendwo anders im westlichen Europa herrschten solch paradigmatisch zugespitzte erbrechtliche Bedingungen in Hinsicht auf Stand, Alter und Geschlecht. Durch den im Kontext der Reichsgründung schlagartig international herausragenden Status von Zell- und Vererbungsforschung lassen sich wie unter dem Brennglas die entsprechenden begrifflichen Wanderungen und Entwicklungen in Recht und Biologie beobachten.
Das Konzept der Reproduktion, wie es am prominentesten von dem Naturforscher Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon, eingeführt wurde,[2] betont das Wiedererschaffen, die Regeneration des Gleichen. Das Auftauchen des Begriffs »Reproduktion« war verbunden mit einer Kritik der etablierten Vorstellung von Zeugung und Ewigkeit. Im Verlauf des aufkommenden Gebrauchs der verschiedenen Vorstellungen von Reproduktion[3] bzw. Fortpflanzung wurde im späten 19. Jahrhundert das Konzept der Weitergabe von Merkmalen im Deutschen vermehrt als Vererbung bezeichnet. Der Begriff der Vererbung wurde in deutschsprachigen Texten in einem Atemzug mit Zeugung und Reproduktion genannt.
In der Wissenschafts- und Wissensgeschichte widmen sich einige wenige Studien bestimmten Aspekten dieser Modernisierung von Vererbungskonzepten im Verhältnis zum Recht: Sara Paulson Eigen diskutierte das Ringen um verlässliches Wissen bei dem Versuch der Medizin im 18. Jahrhundert, brauchbare Argumente für den Beweis einer konkreten Vaterschaft und Mutterschaft zu finden.[4] David Warren Sabean verwies auf Zusammenhänge zwischen Erbrecht und sich etablierenden Veränderungen im familiären Reproduktionsverhalten. Es gelang ihm, am Beispiel eines italienischen Dorfs um 1800 sowie einer deutschen Stadt eine Verbindung zwischen der rechtlichen Abschaffung der Primogenitur im Erbrecht (nach der der älteste Sohn erbt) zugunsten einer gleichberechtigten Landaufteilung unter Geschwistern und anschließenden zunehmenden Liebesehen unter Verwandten derselben Generation zu zeigen, so dass das Land um 1900 wieder zusammengeführt werden konnte.[5] Schließlich ist es der Begriff der Reproduktion, auf dessen Grundlage Alain Pottage parallele Entwicklungen zwischen innovationsrechtlichen Regelungen wie dem Patentrecht und biologischen Vererbungskonzepten seit der Frühen Neuzeit diskutierte.[6]
Während diese historischen Fallstudien die lokalen Gegebenheiten des Zusammenspiels von rechtlichen und biologischen Vererbungsmustern eindrucksvoll veranschaulichen, lassen sie sich in einen ersten breiteren Überblick über das Thema Erbe in Europa einbetten. In einer interdisziplinären Anthologie,[7] die explizit das Nebeneinander von Studien zum rechtlichen und biologischen Verständnis von Erbe in den Mittelpunkt stellt, argumentieren Stefan Willer, Sigrid Weigel und Bernhard Jussen, dass die bürgerlichen Umbrüche in Europa um 1