1. KAPITEL
Der Ausblick von der Fähre war so atemberaubend, dass Liam sich ernsthaft versucht fühlte, von Porträtfotografie auf Landschaftsaufnahmen umzusteigen. Ein türkisfarbenes Meer, das den tiefroten Ball der untergehenden Sonne reflektierte, ein Himmel, der am Horizont vom dunstigen Blau bis zu tiefem Pfirsichton changierte, während die Sonne hinter der Inselsilhouette von San Rocello versank.
Nie zuvor hatte er so etwas Wundervolles gesehen.
Aber er war nicht hergekommen, um Ferien zu machen, sondern offizielle Fotos von Prinzessin Vittoria di Sarda, die nach dem bevorstehenden Rücktritt ihres Großvaters die Herrschaft über das kleine Königreich am Mittelmeer übernehmen sollte. Obwohl man ihm versicherte, dass er diesen Auftrag allein aufgrund seiner hervorragenden Arbeiten bekommen hatte, kam es ihm doch ein wenig wie Vetternwirtschaft vor. Denn Isabella, die jüngere Schwester von Prinzessin Vittoria, war gleichzeitig die beste Freundin seiner eigenen kleinen Schwester, Saoirse. Und Izzy, wie Prinzessin Isabella auch genannt wurde, hatte ihn für diesen Job ihrem Großvater vorgeschlagen.
Liam holte tief Luft. Dieses Nervenflattern war absolut lächerlich. Seit Jahren hatte er unzählige Portraitaufnahmen für Hochglanzmagazine und Sonntagsbeilagen abgeliefert, von Super-Promis bis hin zu hochrangigen Politikern. Einige seiner Arbeiten hingen sogar in der National Portrait Gallery in London. Im Laufe seiner Tätigkeit hatte er zunehmend mehr Sicherheit und Souveränität gewonnen, sodass er sich in jeder Gesellschaft zu bewegen wusste und wohlfühlte.
Ein Mitglied des Königshauses zu fotografieren war allerdings eine Premiere. Und zugleich eine Gratwanderung.
Laut Aussage des königlichen Privatsekretärs wünschte seine Hoheit ein formelles Portrait der zukünftigen Königin. Worauf Izzy gespottet hatte: „Nonno stellt sich Vittoria inmitten eines steifen, verstaubten Szenarios vor, in ein schickes Kleid mit Schärpe gehüllt und mit Juwelen behängt.“
„Hört sich doch ziemlich normal für eine Prinzessin an“, hatte Liam eingewandt.
„Und ist seit mindestens einem Jahrhundertout“, murrte Izzy daraufhin. „Fürchterlich, wie die steife Palastatmosphäre Rina zu ersticken droht! Man sollte der Öffentlichkeit lieber die Frau hinter dem Prunk präsentieren.“
Sämtliche Pressefotos und Paparazzi-Schnappschüsse, die Liam von Vittoria di Sarda, oder Rina, wie Izzy sie nannte, gesehen hatte, zeigten eine coole, sehr gesammelt wirkende junge Frau, Typ Business-Lady. Perfekt gepflegt und stets mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.
Nicht ganz Mona Lisa, aber in dieser Richtung, und ganz sicher kein derart verpeiltes und überdrehtes Energiebündel wie ihre Schwester. Wenn er Izzy zusammen mit seiner Schwester in der Küche sitzen und überbackene Toasts futtern sah, wirkte sie wie jede andere Kunststudentin, aber nicht wie eine Prinzessin.
Vittoria hingegen war von Kopf bis Fuß absolut königlich. Die Portraitaufnahme, wie ihr Großvater sie sich vorstellte, würde perfekt funktionieren. Vittoria trug ihr dunkles Haar in einem klassischen, leicht altmodischen Stil, ähnlich dem von Grace Kelly. Zugleich erinnerten ihre zarte Figur und ihre seelenvollen violetten Augen an die junge Elizabeth Taylor. Die gewünschte traditionelle Pose mit schickem Kleid, Diamanten und königlichen Insignien hätte für sie erfunden sein können …