1. KAPITEL
Sie würde sich nicht wie ein Schulmädchen benehmen und in Tränen ausbrechen, sagte sich Jodie und presste die Lippen aufeinander. Es fing schon an, dunkel zu werden. Sie fühlte sich krank, und ihr Magen verkrampfte sich, weil sie fürchtete, einen schweren Fehler begangen zu haben – in dem Dörfchen, durch das sie zuletzt gekommen war, hatte sie eine Abzweigung genommen, vielleicht die falsche.
Sie und John hätten jetzt gemeinsam die Nacht in der Hochzeitssuite eines romantischen Hotels verbringen können … ihre erste Nacht als Mann und Frau. Jodie würde nicht weinen. Nicht jetzt – und schon gar nicht wegen eines Mannes. Nie, nie wieder. Das Wort Liebe hatte sie aus ihrem Wortschatz gestrichen. Und aus ihrem Leben.
Sie stöhnte auf, als ihr kleiner Leihwagen in ein tiefes Schlagloch rumpelte – auf einer schmalen Landstraße, die tatsächlich immer höher in die Berge hinaufführte und nicht an die Küste.
Seit sie im Alter von neunzehn Jahren ihre Eltern bei einem Autounfall verloren hatte, waren ihr Cousin David und seine Frau Andrea Jodies einzige Verwandte. Sie hatten ihr davon abgeraten, allein nach Italien zu fahren.
„Aber die Reise ist bereits bezahlt. Und wenn John nicht mitkommt, werde ich sie eben ohne ihn machen“, hatte Jodie geantwortet.
Außerdem wollte sie auf keinen Fall in England sein, wenn John ihre Freundin Louise heiratete. Sie wollte ein paar Wochen irgendwo anders sein und nicht an ihren Exverlobten und Louise denken – Louise, die Jodies Platz in Johns Herzen eingenommen hatte, in seinem Leben und in seiner Zukunft.
Jodie hatte David und Andrea nicht erzählt, wie tief es sie wirklich traf, dass ihr Verlobter sie nur einen Monat vor der Hochzeit wegen einer anderen verlassen hatte. David und Andrea hatten sie zu überzeugen versucht, dass sie zu Hause bleiben sollte. Aber das Städtchen in den Cotswolds war so klein, dass dort jeder jeden kannte und alle wussten, was Jodie passiert war. Das Mitleid der Nachbarn hätte Jodie nicht ertragen. Mit der Reise nach Italien wollte sie allen Leuten, aber in erster Linie John und Louise, zeigen, wie wenig sein Verrat ihr bedeutete.
Am besten wäre es natürlich, wenn sie auf Johns und Louises Hochzeit in Begleitung eines besser aussehenden, reicheren und attraktiveren Mannes erscheinen würde … Träum weiter, schalt Jodie sich selbst. Denn es gab nicht die geringste Chance, dass so etwas tatsächlich eintreten würde.
„Jodie, du kannst doch nicht allein nach Italien fahren“, hatte David protestiert. Andrea und er hatten sich vielsagende Blicke zugeworfen.
„Wieso denn nicht?“, hatte Jodie erwidert. „An das Alleinreisen muss ich mich ja wohl gewöhnen. Warum nicht gleich damit beginnen?“
„Jodie, wir beide verstehen ja, dass du geschockt und verletzt bist“, hatte Andrea hinzugefügt. „Aber das ist doch auf Dauer keine Lösung.“
„Für mich schon“, hatte Jodie beharrt.
Es war Johns Idee gewesen, die Zeit nach der Hochzeit an der wunderschönen Küste von Amalfi in Italien zu verbringen.
Als Jodies Wagen erneut durch ein Schlagloch rollte und kräftig geschüttelt wurde, seufzte sie. Die Straße war in einem solch miserablen Zustand, dass Jodie das Fahren mehr Konzentration als gewöhnlich abforderte. Ihr Bein schmerzte, und sie bedauerte nun, dass sie ihre erste Nacht in Italien nicht in der Nähe von Neapel verbracht hatte. Wo um Himmels willen befand sie sich? Bestimmt nicht dort, wohin sie hatte fahren wollen. Die Wegweiser zu dem kleinen Dorf, das ihr erstes Ziel bildete, waren entweder gar nicht zu finden oder ungenau. Die Straße war auf der Landkarte nicht eingezeichnet. Mit John wäre Jodie das nicht passiert, aber John war nicht bei ihr … und würde es auch nie mehr sein.
Wenn sie daran dachte, dass praktisch jeder in ihrem Heimatstädtchen über John und Louise Bescheid gewusst hatte – alle außer ihr selbst –, wurde Jodie klar, wie naiv sie gewesen war. Von Freunden hatte sie erfahren, dass Louise, erst einige Monate zuvor mit ihren Eltern in die Cotswolds gezogen, von dem Moment an, da ihr John vorgestellt worden war, beschlossen hatte, ihn für sich zu erobern. Jodie fiel es wie Schuppen von den Augen: Deshalb hatte Louise sich so um ihre Freundschaft bemüht. Jodie hätte ahnen müssen, dass etwas nicht stimmte, als John ihr scheinheilig versichert hatte, „die Sache mit ihrem Bein“ würde ihm nichts ausmachen. Sie stöhnte, weil die Schmerzen in ihrem Bein jetzt stärker wurden.
Nie wieder würde ihr dieser Fehler unterlaufen. Nie wieder würde sie das Wort „Liebe“ für bare Münze nehmen – selbst wenn es bedeutete, dass sie für den Rest ihres Lebens allein bleiben würde.
Was John und Louise anging, so erschienen die beiden wie füreinander geschaffen. Beide hatten sie betrogen und belogen. Jodie beschloss, nicht eher wieder nach Hause zurückzukehren, bis die Hochzeit vorbei war. Auf das Getuschel und die mitleidigen Blicke konnte sie gern verzichten.
„Sieh die ganze Sache doch auch mal von einer positiven Seite“, hatte Andrea versucht, sie aufzumuntern. „Wer weiß … vielleicht triffst du ja in Italien den Mann deines Lebens. Italienische Männer sind bekanntlich besonders gut aussehend und leidenschaftlich.“
Italienische Männer können sein, wie sie wollen, dachte Jodie. Liebe, Ehe – davon wollte sie nichts mehr hören.
Jodie fuhr etwas schneller. Sie hatte keine Ahnung, wohin die gewundene, mit Schlaglöchern übersäte Straße sie führte. Aber sie wollte nicht umkehren. In ihrem Leben würde es keine Umkehr mehr geben, keinen Blick zurück, keine wehmütige Erinnerung an das, was hätte sein können. Sie musste nach vorn schauen – nur nach vorn.