PROLOG
London, Ende März 1833
Sie hat es schon wieder getan“, verkündete Gregory Lattimar, der älteste Sohn und Erbe des Lord Vraux im Stadtpalais der Familie in der Brook Street. Er schob seine Schwestern, die Zwillinge Temperance und Prudence, in den kleinen Salon, wo Lady Stoneway, ihre Tante, sie schon erwartete.
Die dunkle Vorahnung, die Pru überkam, als ihr Bruder sie aus der amüsanten Lektüre von Godfrey’s Lady’s Magazine geschreckt hatte, wuchs sich aus zu echter Beunruhigung. „Was ist passiert, Gregory? Was immer es sein mag, wir werden doch sicher unser Debüt nicht wieder verschieben müssen?“
Diese Frage ließ ihre Tante aufstöhnen, dann ging sie auf Prudence zu und umarmte sie. „Es tut mir so leid, mein Liebes! Ich war fest davon überzeugt, dass ihr Mädchen in diesem Frühjahr in die Gesellschaft eingeführt werden könnt!“
„Es gibt also keine Saison für uns, nicht wahr?“, fragte Temperance, verschränkte die Arme und sah ihren Bruder finster an. „Was ist jetzt wieder passiert, das unserem Ruf schaden könnte?“
„Euer Bruder hat beim Frühstück im Club davon gehört und mich sofort für ein Strategiegespräch einbestellt.“
„Ein Strategiegespräch über was?“, wollte Temperance wissen.
„Bleib ganz ruhig“, sagte Gregory und legte ihr seine Hand auf den Arm. „Ich werde es dir gleich sagen.“
Zwar unterdrückte sie wie immer ihre Gefühle, die aus ihrer lebhafteren Zwillingsschwester nur so heraussprudelten, aber auch Pru konnte es sich nicht verkneifen, noch einmal die Stimme zu erheben. „Was ist passiert, Gregory?“
„Farnham. Da ihr noch nicht offiziell in die Gesellschaft eingeführt wurdet, seid ihr ihm noch nicht begegnet, aber er ist kürzlich aus Oxford zurückgekehrt und hat sich – wie könnte es anders sein? – in unsere Mutter verliebt. Er und ein anderer junger Bewunderer, Lord Hallsworthy, sind um sie herumgeschlichen wie zwei Hunde um einen Knochen. Letzte Nacht, als beide ziemlich betrunken waren, hat Farnham offenbar behauptet, Hallsworthy hätte Mamas Tugend beleidigt, und er hat ihn zu einem Duell gefordert. Hallsworthy hat die Forderung angenommen, und beide haben das Protokoll missachtet und sich sofort nach Hounslow Heath aufgemacht.“
„Mitten in der Nacht?“, fragte Temperance ungläubig. „Außerdem dachte ich, Duelle wären illegal und völlig aus der Mode gekommen.“
„Es war Vollmond, und ja, das stimmt“, bestätigte Gregory. „Ich weiß nicht, was in die beiden gefahren ist. Ehe irgendjemand begriffen hatte, was da passierte, hatte Farnham jedenfalls auf Hallsworthy geschossen. Die Freunde, die den beiden gefolgt waren, haben Hallsworthy zu einem Arzt gebracht, aber es geht ihm nicht gut. Farnham ist auf den Kontinent geflüchtet, und inzwischen hat sich die Nachricht über das Duell – und um wen es dabei ging – in ganz London herumgesprochen.“
„Nun, dann sage ich: Bravo, Mama! Wenn es ihr in ihrem Alter noch immer gelingt, jungen Männern den Kopf zu verdrehen“, meinte Temperance herausfordernd.
„Wenn sie dabei nur bedenken würde, welchen Einfluss ihr Verhalten auf uns hat!“, rief Pru, die unter einer Mischung aus Bewunderung und Ablehnung gegenüber ihrer bezaubernden Mutter litt.
„Um fair zu bleiben – das ist nicht ihre Schuld, Pru“, sagte Tante Gussie. „Londons bisher am längsten regierender Schönheit den Hof zu machen, ist seit dem Debüt eurer Mutter ein Ritual, das alle jungen Männer durchmachen, die von der Universität kommen. Ihr wisst, dass sie nichts unternimmt, um diese Gentlemen zu ermutigen. Ganz im Gegenteil.“
„Was die Rivalitäten der Herren untereinander nur noch bestärkt“, seufzte Gregory.
„Mama ha