3. Kapitel
Flensburg, Deutschland
Kriminalhauptkommissarin Vibeke Boisen stand auf der Leiter und strich mit dem Pinsel die Ecken ihrer Wohnzimmerwand. Der Ton nannte sich Birkengrün und versprach laut Hersteller, ein Gefühl der Ruhe zu vermitteln, den Geist zu beleben und die Kreativität anzuregen. Helles Grün galt zudem als Symbol für den Neuanfang im Kreislauf der Natur. Zumindest Letzteres traf zu. Ein Neuanfang. Die vergangenen sechzehn Jahre hatte sie in Hamburg gelebt. Drei Jahre Studium an der Polizeihochschule, weitere fünf Jahre bei einem Kommissariat und beim Kriminaldauerdienst, ehe sie schließlich mit Mitte zwanzig beimLKA41, dem Fachkommissariat für Tötungsdelikte, gelandet war. Im vorletzten Jahr war sie zur Hauptkommissarin und Stellvertreterin des Teamleiters ernannt worden, und jeder, eingeschlossen sie selbst, war davon ausgegangen, dass sie in die Fußstapfen ihres Chefs treten würde, sobald er in den wohlverdienten Ruhestand ging.
Doch es war anders gekommen. Innerhalb von vier Wochen hatte sie nicht nur ihr schnuckeliges Apartment in Hamburg-Eppendorf gegen einen renovierungsbedürftigen Altbau in der Flensburger Altstadt getauscht, sondern auch ihren Arbeitsplatz. Seitdem redete sie sich ein, dass Flensburg kein Rückschritt war– schließlich beinhaltete der Jobwechsel gleichzeitig eine Beförderung–, sondern schlichtweg das Vernünftigste. Und Vibeke tat meistens das Vernünftigste. Zumindest in den Augen derer, die sie zu kennen glaubten. Sie war immer Profi. Fleißig, funktionierend, kontrolliert. Jemand, der es anderen überließ, Gefühle nach außen zu tragen und Fehler zu begehen. Sie ahnte, dass man in ihr die Langweilerin sah, die sich engstirnig, fast schon fanatisch an Regeln hielt. Niemand wusste, dass sie sich im Inneren wie eine einsame Wölfin fühlte. Und das aus gutem Grund.
Sie tauchte den Pinsel ein weiteres Mal in den Farbeimer, der auf der Abstellfläche der Leiter stand, und fuhr damit fort, die Ecke zu streichen. Das Wohnzimmer sollte am Abend fertig sein. Dann blieb ihr noch das ganze Wochenende für den Rest der Wohnung. Das war zumindest der Plan. Wenn sie sich im Raum umsah, bezweifelte sie allerdings, ob sich das bewerkstelligen ließ. An zwei Wänden stapelten sich die unausgepackten Umzugskartons bis unter die Decke. Auf dem Esstisch standen noch immer die Überbleibsel der kleinen Einweihungsparty, die sie am gestrigen Abend spontan mit ihren beiden besten Freundinnen gefeiert hatte. Wasser- und Weingläser, leere Flaschen und Pizzakartons. Eigentlich waren Kim und Nele nur kurz vorbeigekommen, um auf Vibekes Rückkehr in die alte Heimat anzustoßen, aber dann waren die drei Frauen in alten Erinnerungen schwelgend auf dem Sofa versackt.
Sie kannten sich seit der siebten Klasse. Nele, damals ein spindeldürrer Rotschopf mit Sommersprossen, hatte neben Vibeke im Informatikkurs gesessen und immer ein kleines schwarzes Notizbuch mit sich herumgeschleppt, in dem sie alles notierte, was um sie herum passierte. Heute war sie eine erfolgreiche Journalistin mit taillenlanger Mähne und eine jener Frauen, nach der sich sämtliche Männer die Hälse verrenkten. Kim, die ihr exotisches Aussehen von ihrer aus Hongkong stammenden Mutter geerbt hatte, war an Vibekes zwölftem Geburtstag ins Nebenhaus gezogen. Ein schüchternes Wesen, das mit ihrer gleichaltrigen Nachbarin die Vorliebe für Kampfsport teilte, ein Hobby, das sie bis heute verband. Vibeke hatte den Abend mit den Freundinnen genossen. Vergnügliche Stunden, in denen ihre Sorgen vergessen waren.
Auf dem Esstisch klingelte ihr Handy. Sofort stieg ihr Puls. Hoffentlich war es nicht das Krankenhaus, in dem ihr Vater lag. Jeder Anruf von dort konnte schlechte Nachrichten bringen. Sie legte den Pinsel auf dem Abstreifgitter des Farbeimers ab und stieg die Leiter hinunter. Erleichtert stellte sie mit einem Blick aufs Display fest, dass es nicht die Intensivstation war. Die Nummer gehörte ihrer neuen Dienststelle. Mit ihrem Vorgesetzten war abgesprochen, dass sie ihren Job als Teamleiterin der Mordkommission erst nach dem Wochenende antreten würde, vorausgesetzt, es geschah bis dahin nichts Unvorhergesehenes. Den Dienstausweis hatte man ihr vorsorglich schon ein paar Tage zuvor ausgehändigt.
»Kriminalkommissar Wagner«, meldete sich ein Mitarbeiter ihrer Abteilung. »Entschuldigen Sie, falls ich störe. Ich weiß, Sie fangen eigentlich erst Montag an, aber … vielleicht …« Er rang nach den passenden Worten.
»Warum rufen Sie an, Herr Wagner?« Vibekes Blick fiel auf den Farbeimer. Sie ahnte bereits, dass sie weder die Wand, geschweige denn das komplette Wohnzimmer an diesem Tag zu Ende streichen würde.
Der Beamte kam endlich zur Sache. »DasGZ Padborg hat angerufen. Ein Leichenfund am Kollunder Strand. Der dänische Ermittler sagt, die Tote hätte vermutlich in Deutschland gelebt, und bittet um unsere Unterstützung. Ich dachte, Sie möchten vielleicht darüber informiert werden.«
Vibeke langte nach dem Stift und dem Pizzaprospekt auf dem Esstisch. »Geben Sie mir die Adresse der Fundstelle und den Namen des Ermittlers, der vor Ort ist.«
»Sie wollen da selbst hinfahren?« Wagner klang