: Anna Felnhofer
: Schnittbild
: Luftschacht Verlag
: 9783903081871
: 1
: CHF 10.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 336
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Silvester 2016. Fabjan sitzt mit seiner Leica am Fenster. Er blickt auf die vergangenen Monate zurück, in denen er mit einer Frau in ein Spiel geraten ist. Mit jedem Treffen wird er abhängiger von ihr, bis er am Ende überzeugt ist, nicht mehr ohne sie zu können. Frühling 1981. Ein vierzehnjähriges Mädchen wird in die Psychiatrie eingewiesen, nachdem es versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Es vertraut sich einer Psychologin an. Aber ausgerechnet diese Person erweist sich als Falle für die junge Patientin. Sommer 2004. Erik ist zum ersten Mal, seit vor sieben Jahren seine Frau im Urlaub an der Adria verschwunden ist, auf dem Weg in eine Auszeit in den Kitzbühler Alpen. Doch dieser Aufenthalt wird zu einer Belastungsprobe. Herbst 2017. Eine Frau kann seit fünf Nächten nicht mehr schlafen. Sie wird verfolgt und sie weiß, dass es ihre früheren Fehltritte sind, die sie in diesem Herbst einholen. Anna Felnhofer erzählt in ihrem Prosadebüt Schnittbild mit großem Sprachgefühl von Begegnungen zwischen jeweils zwei Menschen, deren augenscheinlichste Gemeinsamkeit der Kontakt zu einer Frau ist, die als Therapeutin mit den Protagonisten in Berührung kommt. Sie ist es gewöhnt, eine Rolle zu spielen, und sie ist eine Meisterin darin; die vier Episoden setzen dort an, wo die Rolle der Therapeutin brüchig wird und wo Sprünge in einer sorgfältig komponierten Fassade allmählich ihr wahres Gesicht freilegen.

ANNA FELNHOFER, * 1984 in Wien, Studium der Psychologie in Wien und Warschau, Promotion 2015. Arbeitet als Wissenschaftlerin und Klinische Psychologin an der MedUni Wien. Gründung und Leitung eines Virtuellen Realitäts(VR)-Labors (PedVR-Lab) und der internationalen wissenschaftlichen Zeitschrift Digital Psychology. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen und Herausgabe dreier Lehrbücher (UTB, BELTZ). Parallel dazu literarische Lesungen und Veröffentlichungen unter anderem im Podium, Sterz, Am Erker, in den Konzepten und Lichtungen. Platzierung auf der Shortlist des FM4-Wortlaut-Kurzgeschichtenw ttbewerbs 2018 und 2. Platz beim Emil-Breisach-Literaturpreis 2020 der Akademie Graz.

Mohn


Später wird ein fünfundzwanzigjähriger Mark David Chapman nach langen Verhandlungen mit sich selbst doch die vier Hohlspitzgeschosse abfeuern. Er wird sie, gewollt oder ungewollt, jedenfalls aber in einer Art und Weise in der Lunge und Unterschlüsselbeinarterie des anderen platzieren, dass es keinen Zweifel geben kann: John Lennon wird sterben.

Und während die Welt aus ihrem klar geschnittenen Rahmen kippt und in ein rotblaues Flattern zerfällt, wird Chapman trotz der Kälte seine braune Lederjacke abstreifen, ein zerlesenes Buch aus der Tasche ziehen und sich damit auf den Gehsteig vor dasDakota setzen. Und dort wird er so sitzen bleiben, mit dem Rücken an der körnigen Wand, die bekannte Passage wieder und wieder lesend, dabei kurz aufblickend, gleichmütig, geradezu gelangweilt, ganz so, als würde ihn diese Variante der Wirklichkeit nichts angehen. Bis es still wird. In seinen Ohren rauscht es, und vor ihm faltet sich ein amüsantes Spiegelspiel auf, dann rutscht etwas auseinander, und die Silhouetten der Beamten stürzen so auf ihn zu, als wollten sie ihn einfangen, dabei rührt er sich nicht. Er hebt nur die Hände bis knapp über den Scheitel. Er macht sie nach, diese universelle Geste der Unterwerfung, wie er sie zuvor ungezählte Male im Fernsehen gesehen hat. Er ist jetzt ganz ruhig. Es läuft alles nach Plan. Er sieht sie schreien, aber er hört sie nicht. Man zerrt ihn hoch, schleift ihn zum Wagen und wirft ihn auf die Rückbank, auch das hat er so mehrere Male in Gedanken durchgespielt. Er weiß, irgendwann ist das alles schon einmal passiert, und er ahmt sie jetzt nur nach, die Erfahrung.

Was er aber nicht hatte vorhersehen können, das ist diese Frau. Man holt sie, weil man es ihr versprochen hat. Man stellt sie vor ihn hin. Nur die Scheibe trennt sie voneinander. Sie muss sich zur Seite neigen, das Glas spiegelt und wirft das nächtliche Lichtermeer zurück, eine Kapsel aus Reflexen, klebrig wie Limonade, aber sie findet den Spalt, blickt hindurch, fixiert ihn. Und während sie so dasteht, diese pantherhafte Gestalt, und ihn ansieht, als wäreer das Tier, als sie also einander so gegenübergestellt sind, auf immer verbunden durch den Blick des Betrachters zum Betrachteten, begreift Chapman. Er begreift es in diesem Augenblick.

So könnte es gewesen sein.

Aber noch ist es nicht so weit: Noch fällt nachmittäglicher Schnee auf denCentral Park und legt sich, als wolle er sie für immer bedecken, über dasHarlem Meer un