Kapitel 1
Ein Jahr zuvor
Die Organisation des letzten Schultags war kein bisschen weniger aufwendig als die der Warteschleife über dem Flughafen von Heathrow im Hochsommer. Jeweils fünf Elternpaare sollten beim St.-Crispians-Abschlussball an einem Tisch sitzen und fünf Kinder – nein, keine Kinder mehr, dachte Clover – fünf Teenager mit ihren Freunden an einem anderen Tisch, möglichst weit weg von ihren Eltern, am anderen Ende des Festzelts.
Den Ball mitzuorganisieren lenkte Clovers Gedanken von der klaffenden Lücke ab, die sich in ihrem Leben auftun sollte. Von heute an war sie für immer eine Zuschauerin im Leben ihrer Tochter, kein Eckpfeiler mehr, kein Anker, keine Achse, um die sich Hollys Existenz drehte. Andererseits wäre nun auch Milch im Kühlschrank, wenn Clover einen Kaffee trinken wollte. Sie würde einen Kuli finden, wenn sie sich etwas notieren wollte. Und George und sie kämen vielleicht endlich dazu, einmal quer durch Amerika zu fahren, von der Ostküste zur Westküste.
Zum letzten Mal setzte Clover um acht Uhr morgens Holly, Lola und Jamie an der Schule ab. Im Geiste hakte sie all die letzten Male mit einem mulmigen Gefühl ab. Clover, Laura und Lolas Mutter Alice bildeten seit Jahren eine Fahrgemeinschaft. Sie hatten Ben und Holly Jones, Jamie Dangerfield und Lola Fanshawe zur Schule bugsiert, zu den Pfadfindern, zu Theaterproben, zum Fußball, zum Reiten und – mehr und mehr – zu Prüfungen und Partys mit und ohne Übernachtungen. Alice und Laura waren Clovers beste Freundinnen, und ihre Kinder waren ebenfalls befreundet. Alles funktionierte bestens. Sie machten gemeinsame Urlaube, sprangen als Babysitter füreinander ein, kurz: Sie waren wie eine große Familie.
Clover und Laura waren der Kern der Gruppe. Laura und Tim lebten in einem makellosen Gelbklinkerbauernhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert am Hang eines malerischen Tals. Von dort blickten sie auf Felder, ein Fachwerk-Cottage aus dem Mittelalter, zwei Scheunen, eine Herde seltener Rasserinder und einen Wald. Drinnen war ihr Haus in geschmackvollen Blau- und Terrakotta-Tönen gehalten, mit einer cremefarbenen Shaker-Küche und eleganten cremeweißen Sofas.
Zwei Meilen weiter, im etwas schäbigen Dörfchen Pilgrim’s Worthy, wohnten Clover und George im »Fox Hollow«, einem ausgebauten viktorianischen Cottage, dessen Haustür im Graugrün gemeiner Flechten gestrichen war. Eine Mauer aus verfugten Bruchsteinen trennte ihr Grundstück von dem der Kirche St. Mary’s, und der Garten lag im Schatten der zur Kirche gehörenden Eiben und des normannischen Glockenturms. Die Einrichtung von Fox Hollow war ein Mischmasch aus Farben und Mustern. Der Küchentisch war aus gescheuertem Kiefernholz, unter einem sonnigen Fenster im Bad stand eine Wanne mit Klauenfüßen, und die Sofas im Wohnzimmer waren viel zu weich und durchgesessen. Aber eines davon wurde sowieso meist von Diesel belegt, einem grauen Lurcher, den sie aus einem Tierheim hatten. Die beiden Katzen der Jones-Familie, Bonnie und Clyde, bewohnten die oberen Ebenen; sie hockten entweder auf dem Küchenbüfett mit dem blau-weißen Porzellan, einer zerkratzten grauen Bank oder auf der alten Eichenkommode mit Dutzenden kleiner, sauber beschrifteter Schubladen. Ehedem waren Bonnie und Clyde verwilderte Streuner gewesen. Heute waren sie pummelig, selbstsicher und verschlafen. Clover war eine Elster, die alles mitnahm, was gerettet werden konnte – ob Mensch oder Tier.
Als sie schon fünf Jahre in Pilgrim’s Worthy lebten, kaufte Alice einen verfallenen Sechzigerjahre-Bungalow am Dorfende. Das Haus sah eher wie eine Garage aus, die jemand versehentlich am Dorfrand fallengelassen hatte, aber Alice baute es aus und um, bis es zu einem vielfach fotografierten Beispiel für zeitgenössisches Wohnen mit riesigen Fenstern zum Hopfengarten und den Weiden dahinter wurde.
Die Geografie hatte die drei sehr unterschiedlichen Frauen zusammengeführt, denn Pilgrim’s Worthy lag