Kapitel 1
Rom, Juni 1940
Giovinezza ... giovinezza ... Primavera di bellezza ...
Giuliana hetzte die Marmortreppe in den vierten Stock hinauf und schloss mit zitternden Händen die Tür zur Wohnung auf.
Nel Fascismo è la salvezza ...
Das Lied der Faschisten verfolgte sie bis nach Hause, aus jedem Radio schallte es auf die Straßen. Leute sangen enthusiastisch mit, die Hände zum Gruß der Faschisten erhoben, nachdem Benito Mussolini im Radio verkündet hatte, er habe heute Frankreich und England den Krieg erklärt.
Ihre Mappe noch fest an sich gedrückt, glitt Giuliana innen an der Tür entlang zu Boden, die Knie versagten ihr, sie war völlig außer Atem. Nur langsam beruhigten der vertraute Geruch nach Bohnerwachs und die Stille in der Wohnung ihre überreizten Nerven.
Nach einer Weile erhob sie sich, ließ die Mappe achtlos auf dem Boden liegen und warf ihren Schlüsselbund auf die Konsole, direkt neben die vielen Kondolenzbriefe, die sie nach der Beerdigung von Alessandro Bastiani, ihrem Großvater, erhalten hatte. Vor sechzehn Tagen war er im Alter von neunundsiebzig Jahren an akutem Herzversagen gestorben. Viele teure Blumensträuße, Gestecke und Kränze waren am Tag seiner Beerdigung eingetroffen, die Giuliana aufs Grab hatte legen lassen. Nur ein einziger Strauß stand hier auf der Konsole. Er unterschied sich in seiner Einfachheit von den exklusiven Gestecken, und darum gefiel er ihr besonders gut. Ein üppiger Strauß Margeriten, der durch einen Boten anonym gebracht worden war. Sie blühten in frischem, leuchtendem Rosa, und zum wiederholten Male fragte sich Giuliana, wer ihrem Großvater diesen letzten Gruß geschickt haben mochte. Direkt darunter hatte sie ein Foto von ihm in einem Silberrahmen aufgestellt. Sie nahm es hoch und schob den schwarzen Trauerflor beiseite. Bis zuletzt war er ein gutaussehender Mann gewesen, groß, schlank, weißes volles Haar und ein Lächeln, das Giuliana jetzt die Tränen in die Augen trieb. Wie hätte ihr Großvater auf die heutige Kriegserklärung reagiert? Alessandro Bastiani, früher Anhänger von Benito Mussolini, war seit dem Abessinienfeldzug fünf Jahre zuvor schärfster Gegner des Duce geworden. Nachdenklich stellte sie das Foto zurück und zupfte gerade ein paar verwelkte Margeriten aus dem Strauß, als am anderen Ende des langen Ganges die Tür aufgerissen wurde.
»Da bist du ja endlich. Warum schleichst du dich so heimlich in die Wohnung?« Paula, die Haushälterin, kam auf Giuliana zugelaufen und umarmte sie. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Warum kommst du so spät? In der Stadt scheint ja der Teufel los zu sein.«
»Ich bin kaum durchgekommen, alle drängen zur Piazza Venezia, wo der Duce sprechen will.« Halbherzig erwiderte Giuliana die Umarmung. »Die Schule ist auf Anordnung der Mutter Oberin geschlossen worden«, erzählte sie. »Wenn der Krieg vorbei ist, wird sie wieder geöffnet. Die Mutter Oberin meint, er dauert höchstens ein paar Monate. Und bis dahin seien die Mädchen bei ihren Familien zu Hause besser aufgehoben.«
»Ihre Entscheidung ist sicher richtig«, stimmte Paula zu und richtete sich schnell die graumelierten Haare, die in Wellen das Gesicht der Fünfzigjährigen einrahmten. »Ich will rasch zu den Winters rüberlaufen, ich habe nur noch auf dich gewartet. Sie überlegen, ob sie nach Amerika zurückkehren sollen, wenn in ganz Europa der Krieg ausbricht«, erzählte sie.
»Jaja, geh nur«, sagte Giuliana und wartete noch, bis die Tür hinter Paula zufiel. Die Euphorie der Menschen auf den Straßen, ihre Gewaltbereitschaft, die bedrohliche Stimmung, die von ihnen ausging, und die wehenden Fahnen der Faschisten an Gebäuden und Fenstern hatten Giuliana Angst eingejagt. Sie ging in die Küche, schenkte sich ein Glas Johannisbeersaft ein und trat damit auf den kleinen Balkon.
»Viva il Duce!«, schallte eine helle, durchdringende Kinderstimme vom Innenhof herauf. Unwillkürlich beugte sich Giuliana über das schmiedeeiserne Geländer. Die vier Söhne von Dr. Aristoteles Magnani schwenkten die grün-weiß-rote Fahne mit dem Emblem der römischen Axt durch die Luft. Der eine hob sein Spielzeugge