: William Boyd
: Armadillo
: Kampa Verlag
: 9783311700814
: 1
: CHF 9.80
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 464
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
London in den 1990er Jahren: Lorimer Black ist zufrieden. Als Schadensregulierer einer großen Versiche- rungsgesellschaft hat er Karriere gemacht, weil er die Fälle stets zugunsten seines Arbeitgebers regelt. An einem kühlen Wintermorgen begibt sich Black zu einem Geschäftstermin - und findet dort einen Erhängten. Von diesem Tag an ist alles anders: Black wird zum Spielball von Großinvestoren, verliebt sich Hals über Kopf in die wunderschöne, aber verheiratete Schauspielerin Flavia Malinverno und freundet sich mit einem paranoiden Rockstar an. Immer tiefer versinkt er in einem Morast aus Lügen und Intrigen. Und dann wird er noch von seiner rumänischen Vergangenheit eingeholt, die alles andere als glamourös ist.

William Boyd, 1952 als Sohn schottischer Eltern in Ghana geboren, ist dort und in Nigeria aufgewachsen, bevor er in Großbritannien zur Schule ging und studierte. Dass er sich in keiner Kultur ganz zu Hause fühlt, sei für einen Schriftsteller eine gute Voraussetzung, sagt Boyd. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 1981, heute gilt er als einer der bedeutendsten und erfolgreichsten Erzähler der zeitgenössischen Literatur. William Boyd lebt mit seiner Frau in London und im südfranzösischen Bergerac, wo er auch Wein anbaut. Wo immer er sich gerade aufhält - er geht für sein Leben gern spazieren.

1. Kapitel


Irgendwann in unserer Zeit – auf das genaue Datum kommt es nicht an; jedenfalls war es noch sehr früh im Jahr – begab sich ein junger Mann knapp über dreißig, um die eins fünfundachtzig groß, mit pechschwarzem Haar und ernsten, feinen, aber bleichen Zügen, zu einem Geschäftstermin und fand einen Erhängten.

 

Lorimer Black starrte Mr Dupree entgeistert an, von jähem Entsetzen gepackt, zugleich jedoch merkwürdig teilnahmslos – offenbar die widerstreitenden Symptome einer inneren Panik, dachte er. Mr Dupree hatte sich an einem dünn isolierten Wasserrohr erhängt, das an der Decke des kleinen Raums hinter dem Foyer verlief. Ein Aluminiumtreppchen lag umgekippt unter seinen etwas gespreizten Füßen (die hellbraunen Schuhe brauchten dringend Pflege, bemerkte Lorimer). Mr Dupree war der erste Tote in seinem Leben, zugleich der erste Selbstmord und der erste Erhängte; Lorimer fand diese Häufung von Erstmaligkeiten zutiefst beunruhigend.

Sein Blick wanderte zögernd von Mr Duprees abgeschabten Schuhspitzen aufwärts, verweilte kurz am Hosenschlitz, wo er keine Anzeichen einer Spontanerektion entdeckte, wie sie für Erhängte angeblich typisch ist, und erfasste dann das Gesicht des Toten. Mr Duprees Kopf war ein bisschen zu weit vorgebeugt, seine Züge wirkten schlaff und schläfrig – genau wie bei den erschöpften Pendlern, die auf unbequemen Sitzbänken in überheizten Bahnabteilen einnicken. Hätte man Mr Dupree mit dieser verrenkten Kopfhaltung im Achtzehnuhrzwölfzug ab Liverpool Street sitzen und dösen sehen, hätte man vorahnend Mitleid mit ihm haben können, denn er würde mit einem steifen Hals erwachen.

Steifer Hals. Geknickter Hals. Gebrochener Hals. Meine Güte! Lorimer stellte behutsam den Aktenkoffer ab, ging lautlos an Mr Dupree vorbei und öffnete die Tür am anderen Ende des Vorraums. Ein Bild der Verwüstung bot sich ihm. Durch die geschwärzten und verkohlten Dachbalken der Fabrikhalle sah er den bleiernen Regenhimmel, der Boden war noch immer mit den verschmorten und geschmolzenen Leibern der etwa tausend nackten Schaufensterpuppen bedeckt (976 Stück laut Lieferschein, für eine amerikanische Ladenkette). All das verbrannte und verklumpte »Fleisch« jagte ihm einen künstlichen Schauder ein (künstlich deshalb, weil es schließlich nur Kunststoff war und weil niemand wirklich gelitten hatte, wie er sich sagte). Hier und da war der Kopf eines stereotypen Schönlings erhalten, oder ein gebräuntes Model warf ihm einen grotesk verführerischen Blick zu. Die unbeirrte Heiterkeit der Mienen verlieh der Szenerie eine anrührend stoische Note. Hinter der Halle befanden sich, wie Lorimer aus dem Bericht wusste, die niedergebrannten Werkstätten, die Ateliers, der Speicher für die Formen aus Ton und Gips, die Plastikgießerei. Das Feuer, außergewöhnlich bösartig, hatte ganze Arbeit geleistet. Offensichtlich hatte Mr Dupree angeordnet, dass alles unverändert blieb und keine der zerflossenen Schaufensterpuppen angerührt wurde, bevor er sein Geld erhalten hatte. Und Lorimer sah, d