Im Hexenhaus
Sie nahmen den Weg über die Terrasse der Benthiens, die der Seeseite zugewandt war. Von hier aus war das kleine Nachbarhaus bereits zu sehen. Ein Trampelpfad durch die Dünen, den John als Kind oft gegangen war, führte zur Hintertür von Frau Jansens Haus. Hier oben im Listland, im Ostteil der Insel, war fast jede Düne von einem Friesenhaus gekrönt; wie ein wogendes graues Meer, mit den Reetdächern als Wellenkämme, brandeten sie gegen jenes andere, weit gefährlichere Meer, das zwischen Sylt und der dänischen Küste lag, an. An diesem stillen Nachmittag schickte es jedoch nur kleine, harmlose Wellen an den Strand.
Frau Jansens Haus auf der Nachbardüne war alt und winzig und hatte Benthien als Kind mit seinem tiefgezogenen Reetdach an ein Hexenhäuschen erinnert. Als kleiner Junge war er ein paarmal im Haus gewesen, als noch andere Leute dort gewohnt und er mit den Nachbarskindern gespielt hatte.
Damals erklangen immer Lärm und Lachen aus dem Haus, doch als sie es nun betraten, war es totenstill – bis auf eine alte Standuhr, die in der engen Diele tickte.
Die beiden Räume im Erdgeschoss waren liebevoll und gemütlich nach der Art älterer Damen eingerichtet; mit dicken Perserteppichen auf den Böden, bezogenen Lampenschirmen, Ölbildern an den Wänden und einem bisschen Kram und Nippes auf den blankpolierten Möbeln. Auf dem Tisch stand ein Adventskranz, und nach Wald duftende, frische Tannenzweige waren im Zimmer auf Vasen verteilt und mit goldenem und rotem Weihnachtsschmuck liebevoll dekoriert worden. Am Fenster hing ein großer gelber Weihnachtsstern, und auf einem Weihnachtsteller warteten selbst gemachte Zimtsterne, Vanillekipferl, Walnusskugeln und Spekulatius auf eine Schar fröhlicher Naschkatzen.
Ein paar Bücher, in denen sie wohl gerade las, lagen auf kleinen Tischchen herum. In der blitzblanken Küche stand ein prächtiger, noch nicht ganz erkalteter Schokoladenkuchen auf einem Kuchenteller mit weiß-blauem Friesenmuster. Es duftete nach warmer Milch, Backpulver, Vanille und Zimt.
Neben der Küche lag das Badezimmer. Die Badewanne war bis kurz vorm Rand mit Wasser und Schaum gefüllt, und unter dem Schaum schimmerte etwas Rotes. Benthien langte hinein und holte den ertrunkenen Weihnachtsmann herauf, eine ziemlich schlappe Figur, ungefähr 60 Zentimeter groß, mit Mütze, Bart, rotem Rock und einem Geschenkesack auf dem Rücken. Solche Weihnachtsmänner sah man in der Weihnachtszeit oft an Balkonen oder Hausfassaden hochklettern. In eine Badewanne gehörte er mit Sicherheit nicht.
»Ich hänge ihn jedes Jahr an Weihnachten zur Dekoration an mein Bücherregal«, sagte Frau Jansen bekümmert. Sie lächelte ihn schüchtern an. »Dann merke ich wenigstens, dass Weihnachten ist.«
Benthien versuchte, das rote Gewand ein bisschen auszudrücken, dabei fiel sein Blick auf den Spiegel. Die alte Frau, die seinem Blick gefolgt war, keuchte entsetzt. Auf dem Spiegel stand in großen roten Buchstaben:Stille Nacht, tödliche Nacht, liebe Annelie. Daneben ein Kreuz, wie man es in Todesanzeigen oft abgedruckt sieht.
Benthiens erster Gedanke war, ob hier nicht jemand »