1. KAPITEL
Leonie presste das Handy fester ans Ohr. Es tat so gut, die Stimme ihrer Tochter wieder zu hören!
Wie konnte ich nur einen Sprachkurs am anderen Ende der Welt belegen? fragte sie sich zum wiederholten Mal. Zwar waren ihre Kinder gerade volljährig geworden, dennoch brauchten sie die Mutter noch – und umgekehrt brauchte Leonie sie. Nie zuvor war sie länger als ein paar Tage von ihnen getrennt gewesen.
„Statt mich schon wieder anzurufen, hättest du einfach eine SMS schreiben können, Mum.“
„Ich wollte wissen, ob du mit der Waschmaschine zurechtkommst. Sie ist kompliziert zu bedienen.“
„Du hast mir alles klar und deutlich aufgeschrieben.“ Samantha zögerte einen Moment, dann fragte sie. „Rufst du wirklich nur deswegen an?“
„Natürlich!“ Leonie ahnte allerdings, dass sie mit dieser Lüge nicht durchkommen würde, dazu kannte ihre Tochter sie viel zu gut. Daher gestand sie: „Um ehrlich zu sein, ich wollte mich vergewissern, dass es dir gut geht.“
„Das tut es. Mach dir bloß keine Sorgen!“
„Und Kyle?“
„Ihm auch. Er benimmt sich so unmöglich wie immer, aber wir kommen schon zurecht. Schließlich wirst du ja bereits in wenigen Wochen wieder zu Hause sein. Genieße deine Zeit in Nizza, du hast sie dir verdient!“
Das war leichter gesagt als getan!
„Ich bleibe nicht nur einige Wochen fort, sondern gleich ganze drei Monate!“
„Das sind doch nur drei mal vier Wochen“, widersprach Samantha lachend. „Die Zeit wird wie im Flug vergehen. Das hast du jedenfalls immer zu mir gesagt, wenn ich nach den Ferien nicht in die Schule zurückkehren wollte, weißt du noch?“
Natürlich erinnerte Leonie sich nur zu gut daran, und sie wünschte, sie könnte die Zeit zurückdrehen.
Eine Weile plauderte sie noch mit ihrer Tochter, dann verabschiedete sie sich von ihr und legte auf.
Durch die weit geöffnete Fenstertür trat Leonie auf den winzigen Balkon, der zu ihrem Einzimmerapartment gehörte. Leider konnte sie von hier aus nicht, wie erhofft, ganz Nizza sehen, sondern hatte lediglich die gegenüberliegende Häuserzeile vor Augen. Vermutlich wäre es praktischer gewesen, eine moderne Wohnung in der City oder eines der Zimmer an der Sprachenschule vor den Toren Nizzas zu mieten, an der sie sich als Studentin eingeschrieben hatte. Doch sie hatte eine möblierte Unterkunft in der Altstadt vorgezogen, um von dort aus das interessante Stadtviertel zu erkunden. Inzwischen war sie jedoch nicht mehr davon überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Auf den Fotos im Internet hatte das Apartment zwar offensichtlich altmodisch eingerichtet, doch geräumig ausgesehen. Leonie, die bisher in einem großzügigen, hellen Haus im weitläufigen Vorort einer australischen Großstadt gelebt hatte, empfand es jedoch als bedrückend eng. Neben einem kleinen kombinierten Wohnschlafraum mit Kochzeile in einer Ecke gab es ein winziges Badezimmer. Das war alles. Und auch mit der hier üblichen Art, Wäsche zu trocknen – die Franzosen