: Florian Malzacher
: Gesellschaftsspiele Politisches Theater heute
: Alexander Verlag Berlin
: 9783895815317
: 1
: CHF 11.80
:
: Theater, Ballett
: German
: 168
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Gesellschaftsspiele zeigt, warum und in welcher Vielfalt Theater heute in verschiedenen Teilen der Welt nicht nur in seinen Inhalten, sondern auch in seiner Form politisch ist. Anhand zahlreicher Beispiele aus darstellender, bildender und aktivistischer Kunst (von Christoph Schlingensief über Anta Helena Recke, Gintersdorfer/Klaßen, Rimini Protokoll, Lotte van den Berg, Zentrum für Politische Schönheit, Pussy Riot, Jonas Staal, Public Movement bis Milo Rau u. v. a.) untersucht der Kurator und Dramaturg Florian Malzacher ein Theater, das im Spannungsfeld von Repräsentation und Partizipation spielerisch und ernsthaft zugleich auf seine eigenen, spezifischen Möglichkeiten setzt. In einer Zeit großer Herausforderungen plädiert Gesellschaftsspiele für einen starken Begriff des Politischen und für ein Theater, das Missstände nicht nur spiegelt, sondern mithilft, die Welt zu verändern. 'Florian Malzacher revitalisiert den Begriff des ?Politischen Theaters? genau im richtigen Moment. Eine aufregende Lektüre!' Matthias Lilienthal

Florian Malzacher ist freier Kurator, Dramaturg und Autor. Nach seinem Studium der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen, arbeitete er als Theaterkritiker (u.a. Theater Heute, Frankfurter Rundschau, taz) bevor er von 2006 bis 2012 Leitender Dramaturg/Kurator des Festivals steirischer herbst in Graz wurde. Von 2013 bis 2017 war er künstlerischer Leiter des Impulse Theater Festivals (Düsseldorf, Köln und Mülheim/Ruhr). Er war u. a. (Ko)Kurator der Internationalen Sommerakademie am Künstlerhaus Mousonturm (2002& 2004), der Reihe Performing Lectures in Frankfurt, von Truth is Concrete in Graz (2012), der performativen Konferenz Aneignungen im Ethnologischen Museum Berlin/Humboldt Lab (2015), von Artist Organisations International am HAU Berlin (2015), sowie Vom Möglichkeitssinn zum Jahrestag der Russischen Revolution in St. Petersburg (2017). Florian Malzacher ist Herausgeber und Autor zahlreicher Bücher zu Theater und Performance, sowie zum Verhältnis von Kunst und Politik. Florian Malzacher is a freelance curator, dramaturg and writer. After studying Applied Theatre Studies in Gießen he worked as a theatre critic (for publications including Theater Heute, Frankfurter Rundschau and taz) before becoming Chief Dramaturg/Curator for the festival steirischer herbst in Graz 2006 - 2012. From 2013 to 2017 he was Artistic Director of the Impulse Theater Festival (in Düsseldorf, Cologne and Mühlheim/Ruhr). Other credits include (co)curator of the International Summer Academy at Künstlerhaus Mousonturm (2002& 2004), the Performing Lectures in Frankfurt and Truth is Concrete in Graz (2012), the performative conference Appropriations at the Ethnological Museum Berlin/Humboldt Lab (2015), Artist Organisations International at the HAU Berlin (2015), and Sense of Possibility on the 100th anniversary of the Russian revolution in St. Petersburg (2017). Florian Malzacher has edited and written numerous books on theatre and performance and on the relationship between art and politics.

REPRÄSENTATION


Eine Familie sitzt an einem Tisch. Eine »mittelreiche« Familie, die es ein bisschen zu was gebracht hat. Die etwas zu verlieren hat – und nicht viel zu gewinnen. Es ist eine Geschichte von Krieg, Vergewaltigung, Einsamkeit, Furcht, aber auch ganz profan von Wohlstand und Abstiegsängsten, von dominanten und doch feigen Vätern, von Sprachlosigkeit und der Flucht vor Verantwortung. Eine Geschichte, die überall spielen könnte. Und zugleich eine, die tief im kollektiven nationalen Bewusstsein wurzelt; eine Nachkriegserzählung aus einer Zeit, als Verdrängen zur deutschen Tugend wurde. Hart, aber auch melancholisch entrückt – umrahmt von BrahmsDeutschem Requiem; das Banale schmiegt sich ans Transzendentale: »Denn alles Fleisch ist wie Gras / und alle Herrlichkeit des Menschen / wie des Grases Blumen. / Das Gras ist verdorret / und die Blume abgefallen.« Doch das Bild in diesem kargen, großen und zugleich klaustrophoben Allzwecksaal scheint nicht zusammenzupassen: Die Familie am Tisch ist schwarz. Ein Anblick, den man in Deutschland aus amerikanischen Fernsehserien kennt, aber nicht aus bayrischen Familiensagas.

In einem Land, in dem schwarze Menschen im Theater fast nur alsexplizit Schwarze auftauchen (weshalb schwarze SchauspielerInnen nicht nur immer die gleichen Typen, sondern oft auch exakt die gleichen Rollen spielen müssen), hat die Regisseurin Anta Helena Recke eine, wie sie es doppeldeutig nennt, »Schwarzkopie« der bereits existierenden InszenierungMittelreich (2015) von Anna-Sophie Mahler (nach einem Roman von Josef Bierbichler) auf die große Bühne der Münchner Kammerspiele gestellt. Eins zu eins: gleiches Bühnenbild, gleicher Text, gleiche Darstellung, gleicher Ablauf – nur die SchauspielerInnen, der Chor, die MusikerInnen wurden ausgewechselt. Eine Nachahmung in der Tradition US-amerikanischerappropriation-KünstlerInnen wie Elaine Sturtevant oder Sherrie Levine, die seit den 1970er-Jahren ein raffiniertes, oft feministisches oder institutionskritisches Spiel mit der männlich dominierten Kunstwelt trieben, indem sie bekannte Bilder nachmalten, nachempfanden, nachstellten oder sich auf andere Weise aneigneten.

Aber dieseMittelreich-Kopie (2017) ist nicht nur eine ziemlich exakte Aneignung der Inszenierung einer anderen Regisseurin. Und sie weist durch die Aneignung weißer Figuren (und deren Verkörperung von weißen SchauspielerInnen) durch schwarze AkteurInnen auch nicht nur darauf hin, wie unter- bzw. gar nicht repräsentiert schwarze Körper und Geschichten auf deutschen Bühnen sind. Es geht zugleich um eine völlig andere – zwiespältige – Aneignung. Dieseappropriation verbildlicht auch den (Alb)Traum völliger Assimilation: Eine schwarze Familie, die alle nichtweißen kulturellen Einflüsse verdrängt zu haben scheint, wenn etwa der Sohn damit hadert, dass er nicht weiß, »was der deutsche Wehrmachtssoldat in Russland und Frankreich tat, der mein Vater war« (Die Regisseurin selbst schreibt, dass sie unweigerlich an ihren senegalesischen Großvater denken muss, »der für die Franzosen nach dem Krieg in Berlin Bonbons an deutsche Kinder verteilt hat«6).

Neben der sehr klaren Forderung nach mehr Sichtbarkeit nichtweißer Menschen auf der Bühne und in der Gesellschaft ist es d