: Francis Nenik
: E. oder Die Insel
: Voland& Quist
: 9783863913007
: 1
: CHF 10.60
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 290
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
April 1945, auf einer Insel in der Mulde. In einem Gebüsch hält sich ein Mann versteckt. Seine Knie sind aufgeschlagen, seine Sachen nass, in der Ferne ist das Geräusch krachender Haubitzen zu hören. Er blickt auf das Pfarrhaus am Ufer, in dem er mit seiner Frau und den Kindern gelebt hat. Aber jetzt sind sie weg. Sie scheinen verschleppt worden zu sein, und er ist sich sicher, dass ihr Verschwinden etwas mit ihm zu tun hat. Er versucht sich zu erinnern. Ein Mann mit einem Klumpfuß kommt ihm in den Sinn. Und ein kleines Mädchen, von dem er nach und nach zu erzählen beginnt. Was er sieht, hört und denkt, schreibt er auf. Ein Abschiedsbrief an seine Frau. Ein Bericht, mit dem er Zeugnis ablegt. Er notiert seine Worte auf der Rückseite von Akten. Sie liegen in dem Koffer, den er bei sich führt, zwischen Dosenfleisch, einer zersplitterten Uhr und einem langsam hart werdenden Laib Brot. Ein Roman, dessen Fassade langsam zerbricht und der die Abgründe unter der dünnen Firnis der Zivilisation sichtbar macht. 'Ein dunkler Roman über einen Arzt, der gefangen ist auf der Insel seines Denkens. Ich kenne nichts Vergleichbares in der deutschen Gegenwartsliteratur.' (Gunnar Cynybulk)

Francis Nenik ist ein Pseudonym, der Autor scheut die Öffentlichkeit. Er wurde Anfang der 80er geboren und lebt in Leipzig. Zahlreiche Veröffentlichungen in renommierten Zeitschriften wie Merkur, Edit und Words Without Borders, die zum Teil fürs Radio vertont wurden. Sein Debütroman 'XO' erschien 2012 in Form einer Loseblattsammlung, im selben Jahr erhielt er den 2. Preis im Essay-Wettbewerb der Literaturzeitschrift Edit. Der Essayband 'Doppelte Biografieführung' sowie der Roman 'Die Untergründung Amerikas' erschienen 2017, im Januar 2017 startete Francis Nenik sein 'Tagebuch eines Hilflosen', in dem er online die Amtszeit von Donald Trump literarisch begleitet.

Sonntag, 15. April 1945


Ich friere. Die Decke hat über Nacht die Feuchtigkeit aufgesogen wie ein Schwamm. Sogar die Blätter im Koffer sind von einem feinen Taufilm überzogen, und während ich das hier notiere, streicht ihn der Stift in kleinen Bögen aus und überschreibt ihn mit meinen Worten.

Meine Worte liegen auf dem Papier wie ich auf der Insel. Sie sind mein Eiland. Ein Archipel aus Grafit in einem Meer aus Tau.

Ich habe gefrühstückt. Brot mit Rindfleisch und Wachsbohnen. Und zum Nachtisch Kondensmilch. Ich habe mit einem spitzen Stein ein Loch in die Dose gedrückt und getrunken.

Und jetzt? Jetzt sitze ich hier und lese die Zeitung. Ich habe sie mir aus den Zweigen des Holunderbusches geholt.

Der Nebel war dicht genug, dass ich zu ihm gehen konnte. Es war ein Gefühl von Freiheit, über die Insel zu laufen. Als würde ich eine Reise machen. Meine Knochen waren über Nacht ganz starr geworden, und es hat gut getan, sie auszuschütteln und nach all den Stunden wieder aufrecht zu gehen. Ich konnte den Holunderbusch von meinem Lager aus nicht sehen, aber ich hatte ein Ziel. Ich wollte schauen, ob die Äste noch drunter liegen.

Der Fluss ist über Nacht angestiegen. Die Männer in der Holzstoff-Fabrik haben gestern Abend die Tore des Mühlgrabens geschlossen, und als ich heute Morgen aufgewacht bin und das Rauschen vernommen habe, hatte ich Angst, die Äste könnten weggespült worden sein. Aber sie waren noch da. Das Wasser ist höchstens einen Fuß gestiegen. Genug immerhin, um es wieder übers Wehr fluten zu lassen.

Ich habe mein Gesicht im Fluss gewaschen und ein wenig getrunken, und als ich zurückgehen wollte, habe ich etwas im Holunderbusch hängen sehen. Es waren Reste von altem Zeitungspapier. Sie müssen sich bei einem früheren Hochwasser darin verfangen haben. Das Papier war schon ganz morsch und ist unter meinen Händen zerbröselt wie altes Pergament.

Ich habe ein paar von den Zeitungsfragmenten vorsichtig aus den Ästen entfernt und sie mit in mein Lager genommen. Jetzt liegen sie vor mir auf dem Koffer, und ich weiß nicht recht, was ich mit ihnen anfangen soll. Es sieht aus wie ein Puzzle, bei dem fast alle Teile fehlen, und selbst die, die ich habe, ergeben keinen Sinn.

Das größte Stück besteht aus gerade mal fünf Zeilen, deren Ränder weggebrochen sind, und das Einzige, was ich noch lesen kann, ist, dass es eine spezielle Form des Obstanbaus gibt, die sich Etagenobstanbau nennt, aber weder weiß ich, was dieser Etagenobstanbau