: Paul Collier
: Gefährliche Wahl Wie Demokratisierung in den ärmsten Ländern der Erde gelingen kann
: Siedler
: 9783641285050
: 1
: CHF 8.80
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: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
Plädoyer des Wirtschaftsbuchpreisträgers für eine wirksame Entwicklungspolitik
Eine Milliarde Menschen leben in den ärmsten Ländern der Erde, die zugleich auch die undemokratischsten Staaten der Welt sind. Warum ändert die Entwicklungshilfe der reichen Industrienationen daran nichts? Und warum führen Wahlen in armen Ländern oft zu noch mehr Armut und Krieg statt zu Wohlstand und Frieden? Der Ökonom und Bestsellerautor Paul Collier untersucht die entscheidende Funktion von Wahlen in den ärmsten Ländern der Erde und zeigt, was wir tun müssen, um die Demokratisierung dieser Staaten wirklich zu unterstützen. Statt ein friedliches, demokratischeres Gemeinwesen zu schaffen, enden Wahlen in armen Ländern meist in der Festigung des herrschenden Regimes oder gar in Putschen und Bürgerkriegen. Collier plädiert deshalb für einen radikalen Wandel in unserem Bemühen um eine Demokratisierung armer Staaten. Statt mit der Durchführung von Wahlen nur demokratische Fassaden aufzubauen, müssen die reichen Industriestaaten den Ländern der 'untersten Milliarde' mehr internationale Sicherheit bieten, damit sie ihren eigenen Weg zur Demokratie finden. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn wir völlig neu über humanitäre und militärische Interventionen nachdenken.

Paul Collier, geboren 1949 in Sheffield, ist einer der wichtigsten Wirtschaftswissenschaftler der Gegenwart. Er war Leiter der Forschungsabteilung der Weltbank und lehrt als Professor für Ökonomie an der Universität Oxford. Seit vielen Jahren forscht er über die ärmsten Länder der Erde und untersucht den Zusammenhang zwischen Armut, Kriegen und Migration. Sein Buch 'Die unterste Milliarde' (2008) sorgte international für große Aufmerksamkeit und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Lionel Gelber Prize und der Corine. Im Siedler Verlag erschienen außerdem 'Gefährliche Wahl' (2009), 'Der hungrige Planet' (2011), 'Exodus' (2014) - eines der wichtigsten Bücher zur Migrationsfrage - sowie 'Gestrandet' (2017, mit Alexander Betts). Sein Buch 'Sozialer Kapitalismus!' wurde 2019 mit dem Deutschen Wirtschaftsbuchpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien 'Das Ende der Gier' (2021, mit John Kay).

VORWORT

Demokratie an gefährlichen Orten


MÖGLICHERWEISE WIRD MEIN SOHNDANIEL, der jetzt sieben Jahre alt ist, das Ende aller Kriege erleben. Aber er könnte auch auf dem Schlachtfeld sterben. Warum beide Szenarien für Kinder von heute eine realistische Aussicht darstellen, ist Thema dieses Buchs. Wie Krankheiten begleiten Kriege die Menschheit seit ihrer Entstehung. Krankheiten werden heute besiegt: Dank des wissenschaftlichen Fortschritts und staatlicher Programme wurden die Pocken 1977 ausgerottet. Was den Krieg angeht, sieht es so aus, als wäre die Weltwirtschaft zum ersten Mal in der Geschichte in der Lage, die für den Weltfrieden nötigen materiellen Voraussetzungen zu schaffen. Aber der globale Wohlstand erhöht auch die Risiken: Eine vernetzte Welt ist anfälliger für die Reste chaotischer Gewalt. So wie bei der Ausrottung der Pocken wissenschaftliche Erkenntnisse von der Öffentlichkeit umgesetzt wurden, muss der wachsende Wohlstand genutzt werden, um der ganzen Welt Frieden zu bringen.

Das vorliegende Buch handelt von Macht. Warum Macht? Weil in den kleinen, armen Ländern am unteren Ende der Weltwirtschaft, in denen eine Milliarde Menschen leben, Gewalt der bevorzugte Weg zur Macht ist. Politische Gewalt ist sowohl ein Fluch an sich als auch ein Hindernis für ein verantwortungsvolles und rechtmäßiges Regieren. Denn wo Macht auf Gewalt beruht, zieht sie die arrogante Annahme nach sich, eine Regierung habe zu herrschen und nicht zu dienen. Zum Beweis genügt ein Blick auf die offiziellen Porträts politischer Führer. In gefestigten Demokratien lächeln sie bei dem Versuch, ihren Herren, den Wählern, zu gefallen. In den Gesellschaften der untersten Milliarde lächeln die Regierenden nicht: Ihre offiziellen Porträts starren mit einer drohenden Grimasse von jedem öffentlichen Gebäude und jeder Schulzimmerwand. Nach dem Abzug der Kolonialmächte sind sie nun die Herren ihres Landes. Dieses Buch wird der Frage nachgehen, warum politische Gewalt in den Ländern der untersten Milliarde so verbreitet ist und was getan werden kann, um sie einzudämmen.

Seit dem Ende des Kalten Krieges sind zwei außergewöhnliche Veränderungen eingetreten, die dazu führen könnten, dass wir uns endgültig von der politischen Gewalt abwenden. Beide Veränderungen haben ihren Ursprung im Untergang der Sowjetunion. Zum einen darf heute ein immer größerer Teil der untersten Milliarde wählen. Die Bilder der Volksaufstände in Osteuropa verstärkten in den Entwicklungsländern den Wunsch nach politischen Veränderungen. In Westafrika konstituierten sich Anfang der 1990er Jahre überall Nationalversammlungen. 1998 überwand Nigeria, der bevölkerungsreichste Staat Afrikas, die Militärdiktatur. So wie an der Wende des ersten Jahrtausends die Führer der europäischen Kleinstaaten plötzlich allesamt zum Christentum übertraten, konvertierten an der zweiten Jahrtausendwende die Führer der Kleinstaaten der untersten Milliarde zum Glauben an Wahlen. Vor dem Ende des Kalten Krieges waren die meisten Führer der untersten Milliarde durch Gewalt an die Macht gekommen – durch einen erfolgreichen bewaffneten Kampf oder einen Staatsstreich. Heute sind die meisten Staatsoberhäupter aufgrund eines Wahlsiegs an der Macht. Wahlen sind die institutionelle Technologie der Demokratie. Sie besitzen das Potential, Regierungen sowohl verantwortungsvoller als auch legitimer zu machen. Wahlen sollten der politischen Gewalt den Todesstoß versetzen.

Die zweite ermutigende Veränderung ist die Verbreitung des Friedens. In den dreißig Jahren vor dem Ende des Kalten Krieges brachen gewalttätige Konflikte schneller aus, als sie beendet wurden, so dass nach und nach immer mehr Bürgerkriege tobten. Hatten diese Konflikte einmal begonnen, erwiesen sie sich als äußerst langlebig. Bürgerkriege dauerten in der Regel zehnmal länger als zwischenstaatliche Kriege. Doch dann endeten diese grausamen, sich hinziehenden Bürgerkriege einer nach dem anderen. Im Südsudan und in Burundi wurden Friedensabkommen ausgehandelt, in Sierra Leone schlichteten internationale Friedenstruppen den Konflikt. Nach dem Ende des Kalten Krieges konnte sich die internationale Gemeinschaft endlich dafür stark machen, die ständigen gewaltsamen Machtkämpfe zu beenden.

Eine Welle von Friedensabkommen verstärkte die Welle der Wahlen und schien eine schöne neue Welt zu versprechen: ein Ende des gewaltsamen Machtstrebens. Aber woher sollen wir wissen, wie sich diese Veränderungen langfristig auswirken werden? Können wir mehr tun, als spekulieren? Ich glaube, ja. Obwohl das Zusammentreffen dieser tie