Es war doch eigentlich nur unsere Absicht, die zwei oder drei Träume, die sich in der Erzählung »Gradiva« eingestreut finden, mit Hilfe gewisser analytischer Methoden zu untersuchen; wie kam es denn, daß wir uns zur Zergliederung der ganzen Geschichte und zur Prüfung der seelischen Vorgänge bei den beiden Hauptpersonen fortreißen ließen? Nun, das war kein überflüssiges Stück Arbeit, sondern eine notwendige Vorarbeit. Auch wenn wir die wirklichen Träume einer realen Person verstehen wollen, müssen wir uns intensiv um den Charakter und die Schicksale dieser Person kümmern, nicht nur ihre Erlebnisse kurz vor dem Traume, sondern auch solche in entlegener Vergangenheit in Erfahrung bringen. Ich meine sogar, wir sind noch immer nicht frei, uns unserer eigentlichen Aufgabe zuzuwenden, müssen noch bei der Dichtung selbst verweilen und weitere Vorarbeiten erledigen.
Unsere Leser werden gewiß mit Befremden bemerkt haben, daß wir Norbert Hanold und Zoë Bertgang in allen ihren seelischen Äußerungen und Tätigkeiten bisher behandelt haben, als wären sie wirkliche Individuen und nicht Geschöpfe eines Dichters, als wäre der Sinn des Dichters ein absolut durchlässiges, nicht ein brechendes oder trübendes Medium. Und um so befremdender muß unser Vorgehen erscheinen, als der Dichter auf die Wirklichkeitsschilderung ausdrücklich verzichtet, indem er seine Erzählung ein »Phantasiestück« benennt. Wir finden aber alle seine Schilderungen der Wirklichkeit so getreulich nachgebildet, daß wir keinen Widerspruch äußern würden, wenn die »Gradiva« nicht ein Phantasiestück, sondern eine psychiatrische Studie hieße. Nur in zwei Punkten hat sich der Dichter der ihm zustehenden Freiheit bedient, um Voraussetzungen zu schaffen, die nicht im Boden der realen Gesetzmäßigkeit zu wurzeln scheinen. Das erstemal, indem er den jungen Archäologen ein unzweifelhaft antikes Reliefbildnis finden läßt, welches nicht nur in der Besonderheit der Fußstellung beim Schreiten, sondern in allen Details der Gesichtsbildung und Körperhaltung eine so viel später lebende Person nachahmt, so daß er die leibliche Erscheinung dieser Person für das lebend gewordene Steinbild halten kann. Das zweitemal, indem er ihn die Lebende gerade in Pompeji treffen läßt, wohin nur seine Phantasie die Verstorbene versetzte, während er sich eben durch die Reise nach Pompeji von der Lebenden, die er auf der Straße seines Wohnortes bemerkt hatte, entfernte. Allein diese zweite Verfügung des Dichters ist keine gewaltsame Abweichung von der Lebensmöglichkeit; sie nimmt eben nur den Zufall zur Hilfe, der unbestritten bei so vielen menschlichen Schicksalen mitspielt, und verleiht ihm überdies einen guten Sinn, da dieser Zufall das Verhängnis widerspiegelt, welches bestimmt hat, daß man gerade durch das Mittel der Flucht sich dem ausliefert, vor dem man fli