1. KAPITEL
Thunder Ridge, Oregon
Izzy Lambert hielt sich für eine grundehrliche Person. Und sie hätte ihren letzten Dollar darauf verwettet, dass die meisten Menschen, die sie kannte, ebenso dachten. In ihrem ganzen Leben hatte sie nur zwei Mal die Unwahrheit gesagt. Genau genommen hatte sie die Wahrheit nurverschwiegen.
Lange hatte sie befürchtet, dass ihre Geheimnisse ans Tageslicht kommen könnten, und noch mehr Zeit hatte sie damit verbracht, nach dem Mann zu suchen, dem sie die Wahrheit vorenthalten hatte. Manchmal glaubte sie sogar, ihn zu sehen, etwa …
… im Supermarkt, wo er eine Tüte Milch aus dem Regal nahm …
… in der Schlange vor dem Bankschalter …
… im Wagen hinter ihr am Drive-In-Restaurant …
Einmal hätte sie sich fast an einem Pfannkuchen in einem Restaurant in Disneyland verschluckt, als sie glaubte, ihn in einem der Kellner wiederzuerkennen.
In Wirklichkeit war er es nie gewesen – Gott sei Dank! –, aber jedes Mal, wenn Izzy glaubte, Nate Thayer zu erblicken, begann ihr Herz wie wild zu schlagen, ihr Puls raste, ihr wurde ganz heiß und schwindlig, und im Handumdrehen war sie schweißgebadet.
Wie jetzt, als sie auf der Straße Flyer verteilte, um Passanten und Touristen auf ihr RestaurantThe Pickle Jar aufmerksam zu machen.
„Was gibt’s denn da so zu essen?“, wollte eine Frau wissen und wedelte mit dem Flyer. „Nur Salzgurken?“, spielte sie auf den Namen des Lokals an.
„Natürlich nicht. Wir bieten regionale Küche mit regionalen Spezialitäten an. Sehr viel Vegetarisches. Und absolut gesund.“
„Wo liegt es denn?“, fragte eine andere Frau.
„Etwa dreißig Meter in diese Richtung.“ Izzy streckte die Hand aus.
„Und um für Ihr Restaurant zu werben, haben Sie sich als Gurke verkleidet?“, bemerkte ein älterer Herr, dem Schweißperlen auf der Stirn standen, schmunzelnd.
In ihrem Gurkenkostüm war Izzy in der Nachmittagssonne genauso heiß geworden. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie nicht im Traum daran gedacht, in dieser blödsinnigen Maskerade auf die Straße zu gehen. Aber in einem Marketingkurs für selbstständige Unternehmer hatte sie gelernt, dass Auffallen und Originalität äußerst wichtig waren, um aus der Masse hervorzustechen und die Kundschaft anzulocken.
Eigentlich hatte Izzy Wirtschaftswissenschaften studieren und danach ein eigenes Büro eröffnen wollen, in dem sie in eleganter Businesskleidung mit ihren Klienten verhandelte. Leider aber erfüllten sich manche Wünsche nicht, und Izzy hatte lernen müssen, dass man nur weiterkam, wenn man die Realität akzeptierte. Nun, da sich das Restaurant, in dem sie Geschäftsführerin war, gegen immer mehr Konkur