Über Irrwege auf Umwegen
Glaube und Kirche gehen keinen geraden Weg. Immer wieder erweisen sich ausgetretene Pfade als Irrwege, Umwege jedoch als Hinwege zu etwas Neuem. Es gilt, sich der Realität zu stellen, mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen und mit ganzem Herzen bei Gott zu sein.
Corona – die alles bestimmende Wirklichkeit
Religion entstand vor etwa fünfzigtausend Jahren. Die Menschen wurden damals sesshaft. Vorher liefen sie ihren Beutetieren hinterher, hatten faktisch keine Freizeit und von daher kaum Gelegenheit zum Denken und Nachdenken. Jetzt, mit der Sesshaftwerdung, betrieben sie Ackerbau und Viehzucht, legten Vorräte an und gewannen damit Zeit, in den Himmel zu schauen, über die Sterne zu sinnieren und nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Bestattungsriten gehörten zu den ersten religiösen Handlungen überhaupt. Die Hoffnung auf ein ewiges Leben bestimmte Religion von Anfang an.
Von diesen Frühformen bis zum Ende des Mittelalters gab es eine einzige alles bestimmende Wirklichkeit: Gott. In ganz Ägypten oder Persien, Griechenland oder Rom lebten faktisch keine Atheisten. Jeder glaubte an irgendeinen Gott und meistens an mehrere. Die Israeliten mussten nicht beweisen, dass es Gott gibt, nicht begründen, ob Glauben sinnvoll ist oder nicht, sondern nur ihren eigenen Gott für den einzigen halten. Jesus musste mit den Schriftgelehrten und Pharisäern nicht darüber diskutieren, ob JHWH der Gott Israels ist, sondern nur über unterschiedliche Ansichten von Gottes Barmherzigkeit und Liebe, über die Auslegung von Gesetzen und die religiöse Praxis. Paulus musste niemanden dazu bewegen, an einen Gott zu glauben, sondern nur dazu ermutigen, dem Gott und Vater Jesu Christi zu vertrauen und durch dessen Tod und Auferstehung das Heil zu erwarten, bedingungslos und leistungsfrei. Auf diese Weise hat Paulus das Christentum für jedermann und jederfrau zugänglich gemacht.
So blieb es durch die gesamte Antike bis ins späte Mittelalter: Dass es einen Gott gibt, wurde niemals in Frage gestellt. Gott – der Glaube an ihn, aber auch die Angst vor ihm – war die alles bestimmende Wirklichkeit. Von der Neuzeit bis zur Aufklärung war der Mensch das Maß aller Dinge, das anthropozentrische Weltbild war die alles bestimmende Wirklichkeit. In der Reformation und Gegenreformation ging es um die Gnade und die Bedeutung der Kirche, nicht jedoch um Gott selbst. Dessen Existenz wurde von niemandem bezweifelt. Steht der Mensch im Mittelpunkt, kann Gott nur noch helfen, das zeitliche Leben zu bestehen und das ewige Leben zu finden. In der Aufklärung tauchen die ersten Atheisten auf, jedoch nur unter den Intellektuellen. Die Romantiker fanden das Göttliche in der Natur, sie schwärmten von einem Gott in allen Dingen. In dieser Zeit erfand sich die katholische Kirche neu, indem sie durch manche erfundenen Traditionen meinte beweisen zu können, dass sie allein die göttliche Wahrheit authentisch zu verwalten im Stande sei. Sie lehnte sich gegen die Vernunft auf und band im 19. Jahrhundert durch den Jurisdiktionsprimat und das Unfehlbarkeitsdogma jeden Wahrheitsanspruch an einen Papst, der in der Zeit aufkommender Nationalstaaten der letzte universale Souverän der Wahrheit zu sein vorgab. Ein verzweifelter Versuch, nach der Emanzipation der menschlichen Freiheit und Vernunft wieder Gott oder gar die Kirche zur alles bestimmenden Wirklichkeit zu machen.
Dieser Versuch ist gescheitert, denn seit dem 19. Jahrhundert gibt es viele Wirklichkeiten, die miteinander konkurrieren oder einfach nebeneinander existieren: das Aufblühen der Nationalstaaten, das Aufkommen von Ideologien wie dem Kommunismus, die industrielle Revolution mit dem Kapitalismus, in dem nunmehr das Geld zur alles bestimmenden Wirklichkeit wurde. Mir scheint, dass nach dem Fall der Mauer und dem Zerfallen der Ideologien das Kapital eine Zeitlang zur alleinigen Wirklichkeit geworden war. Fukushim