: Per Leo
: Tränen ohne Trauer Nach der Erinnerungskultur
: Klett-Cotta
: 9783608116649
: 1
: CHF 14.40
:
: Zeitgeschichte (1945 bis 1989)
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wie können wir uns von Hitler emanzipieren, ohne den Nationalsozialismus zu vergessen? »Leo hinterfragt die deutsche Erinnerungskultur wie keiner vor ihm. Ich habe seit Jahren kein so intensives, dringliches und brillant geschriebenes Buch mehr gelesen.« Peer Teuwsen, NZZ am Sonntag, 26.09.2021 Auf unsere Erinnerungskultur sind viele Deutsche stolz. Tatsächlich aber diente sie oft nur der eigenen Entlastung. Und sie hat unser Geschichtsbewusstsein verengt. Per Leo weitet es wieder, indem er den Blick öffnet: in die USA und zur DDR, nach Israel und Polen, zurück in eine unaufgeräumte Vergangenheit, nach vorne in ein unvollkommenes Einwanderungsland. Dieses radikale Buch verbindet eine Provokation mit einem Angebot. Es irritiert unseren Läuterungsstolz, und zugleich verlockt es zu einem frischen Blick auf die eigene Geschichte. Im Umgang mit dem Nationalsozialismus haben die Deutschen manches geleistet, sie sind aber auch vielen Illusionen erlegen. Heute droht eine Vergangenheit, die umso häufiger beschworen wird, je weniger man von ihr weiß, den Blick auf die Gegenwart zu verstellen. Migration und Wiedervereinigung haben unser Land so verändert, dass wir lernen müssen, anders auf uns selbst zu blicken. Weniger provinziell, weniger zwanghaft, weniger egozentrisch. Weltoffener, vielfältiger, neugieriger. Ein Leitmotiv, das uns dabei den Weg weisen könnte, ist für Leo das deutsch-jüdische Verhältnis. Wer bereit ist, die routinierte Betroffenheit über den Holocaust hinter sich zu lassen, wird auf eine verblüffende Vielfalt stoßen. Denn »die Juden« gibt es nicht - und auch hierzulande kann man viel, viel mehr sein als bloß »kein Nazi«.

Per Leo, geb. 1972, wurde mit einer Arbeit über die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland promoviert. Sein Debütroman »Flut und Boden« stand auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises. Der von ihm mitverfassten Leitfaden »Mit Rechten reden« wurde zum vieldiskutierten Bestseller. Leo lebt als freier Autor und Schatullenproduzent in Berlin.

Vom Abgrund


Vom Nationalsozialismus wird in Deutschland oft maßlos, selten genau gesprochen. Die Beliebigkeit des alltäglichen Geredes und die Vermessenheit seines Anspruchs stehen jedenfalls in keinem Verhältnis zu Wissen und Problembewusstsein, zu Urteilskraft und Sorgfalt, den vereinten Kräften, die ein historischer Gegenstand von solchem Gewicht eigentlich erforderte. Wer aber die Tugenden der Historie nicht kennt, wird gar nicht merken, dass er sich an der Geschichte verhebt. Es ist gute Sitte in unserem Land, mit dem Nationalsozialismus hundertmal auf andere zu zeigen, bevor man auch nur die komplizierte Frage ahnt, was er womöglich mit einem selbst zu tun haben könnte. An Hitler waren vor allem Hitler und der Nachbar schuld, und Auschwitz würde man den Juden nie verzeihen.[1] Wo nach dem Krieg kein Deutscher ein Nazi gewesen sein wollte, da versteht man sich mittlerweile so gut auf die Kunst des nachträglichen Ungehorsams, dass Linke wie Rechte, Liberale wie Autoritäre einander darin überbieten, heroischen Widerstand gegen den Anbruch des Vierten Reichs zu leisten. Und wenn das Heimischwerden syrischer Kriegsflüchtlinge auch daran scheitern kann, dass man ihnen voller Stolz ihr neues Land in einerKZ-Gedenkstätte vorstellt, dann kann es ein Zeichen gelungener Integration sein, dass ein »Migrationshintergründler« gelernt hat, nach zehn Minuten Internetrecherche den »Nazihintergrund« einer »biodeutschen« Mitbürgerin bloßzustellen.[2]

Es gibt für die Leichtfertigkeit, mit der wir uns auf den Nationalsozialismus beziehen, und die damit verbunde