Prolog
Juli 1914
Es war der erste warme Sommertag in diesem Jahr. Der gesamte Frühling hatte sich kühl und wechselhaft präsentiert. Anfang Mai hatte es noch einmal kräftig geschneit, und die Tulpen und Narzissen waren unter einer dicken weißen Decke begraben worden. Jetzt war die Kälte endgültig gebannt. Leuchtend blau und wolkenlos strahlte der Himmel über der Stadt und verhieß ein herrliches Wochenende. Die Luft war geschwängert vom Duft üppiger Sommerblumen und saftigem Gras.
Sonnenhungrig drängten die Wiener und Wienerinnen in die öffentlichen Parkanlagen. Man fuhr mit der Bahn zu einer feschen Landpartie in den Wienerwald oder in die Donauauen. Die warmen Wollmäntel wurden im Schrank verstaut. Stattdessen trug man wieder Sommerbekleidung aus luftigen Stoffen. Die Damen zwängten sich in viel zu enge Fischbeinkorsetts und zeigten fest geschnürte Taillen. Die Männer waren nicht minder eitel. Allerorts wurden elegante Sommeranzüge und schneidige Uniformen vom Mief der Mottenkugel befreit.
Auch Emma hatte ihr hübschestes Kleid aus dem Winterschlaf erweckt, es gründlich gereinigt und die zartgrüne Schleife im Rücken sorgfältig gebügelt. Heute war ein ganz besonderer Tag. Endlich würde sie sich offiziell als Tierpflegerin in der kaiserlichen Menagerie vorstellen. Zu arbeiten würde sie erst nächste Woche, am ersten Montag im August, beginnen. Seit sie sich zurückerinnern konnte, träumte sie davon, eines Tages in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Karl Moser war Veterinärmediziner, der neben seiner Praxis in Hietzing auch im Tiergarten Schönbrunn tätig war. Schon als kleines Mädchen hatte Emma ihn bei seiner Arbeit in die kaiserliche Menagerie begleiten dürfen. Sie hatte die Panzer von Riesenschildkröten gestreichelt, Lamas gefüttert und Papageien und Flamingos beobachtet. Damals war ihr Wunsch entstanden, Tierärztin zu werden. Doch leider waren Frauen für das Studium der Veterinärmedizin in Wien nicht zugelassen. Sie würde zur Ausbildung nach Zürich gehen müssen. Dort durften auch Frauen studieren, sofern sie