1 Blanche Vernon füllte ihre Zeit damit aus, ihre Gefühle wirkungsvoll in Schach zu halten. In diesem unbehaglichen Monat – es war ein kalter April mit langen, kühlen Abenden – hielt sie es für eine Ehrensache, beschäftigt und heiter zu sein, bis die Nacht hereinbrach und sie ihrer Verpflichtungen enthob. Zwar waren es nur geringfügige und selbstauferlegte Pflichten, aber eben deshalb nahm sie sie umso genauer, denn niemand sonst kam ihnen nach. Da sie keine Witwe und daher ohne jeden Anspruch auf die Rücksichtnahme ihrer Umgebung war, trug sie ihre Scheidung mit Würde, dennoch empfand sie ein Gefühl der Schande. »Ich bin unschuldig«, hätte sie besonders an unfreundlichen Tagen am liebsten verkündet, »und bin es immer gewesen. Mein Mann hat mich um einer jungen Frau willen verlassen, die ein Studium der Informatik beendet hat und an der ich nicht den geringsten Funken von Phantasie entdecken kann.« Dieses Ereignis war ihr unverständlich geblieben, und sie empfand es als Demütigung. Gedemütigt, ratlos und unschuldig fühlte sie umso stärker die Notwendigkeit, den Kopf hochzuhalten und der Welt mit einem Lächeln zu begegnen, das ein zurückhaltendes, doch vergnügtes Interesse an allem andeutete, was das Leben ihr zu bieten hatte. Bevor sie am Morgen das Haus verließ, machte sie sich aufs Sorgfältigste zurecht – bis zum Nagellack auf dem kleinen Finger.
Das Haus zu verlassen – ein großes Backsteingebäude mit mehreren geheimnisvollen Wohnungen und hohen Räumen – war das Ereignis des Tages. Danach konnte sie aufatmen, da sie sich wieder einmal in die Welt hinausgewagt hatte, ohne auf Widerstand gestoßen zu sein. Sie schritt zügig aus, obwohl sie sich über ihr Ziel noch nicht ganz klar war. Die Wallace Collection besuchte sie häufig, ebenso die National Gallery, seltener das British Museum, wo sie einmal nahezu ohnmächtig geworden war. Im Victoria and Albert Museum hatte sie einmal zwischen zwei Vitrinen mit Dinanderien eine wahrhaft beunruhigende Todesahnung gehabt. Sie war diesen unerklärlichen Gefühlen ausgeliefert, die sich meistens auf ihr eigenes Ende bezogen, und sie musste eine Menge Selbstironie aufbieten, um ihre Panik zu bekämpfen. Ihre Nachbarn hielten sie für unnahbar und versuchten deshalb gar nicht erst, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Das wunderte sie nicht, denn sie war so intensiv mit der Lösung ihrer inneren Widersprüche beschäftigt, dass sie selten ihre Wirkung auf andere wahrnahm. Manchmal kam ihr ein Gesicht bekannt vor, und sie lächelte, aber zu spät, und so welkte ihr Lächeln langsam dahin, um einer sorgenvollen Miene Platz zu machen, die ebenfalls nur langsam verschwand, langsamer, als sie wusste.
Ihr Ehemann, Bertie, hatte sie nach zwanzigjähriger Ehe verlassen, und diese zwanzig Jahre konnte sie nicht aus ihrem Bewusstsein verdrängen. Sie war sehr glücklich gewesen, aber sie nahm an, dass er es nicht gewesen war. Sie hatte in diesen Jahren einen so großen Tatendrang verspürt, dass sie sich gezwungen hatte, ihre Überschwänglichkeit zu drosseln. Sie hielt solche Überschwänglichkeit für peinlich, wenn man sich nicht ganz sicher war, anderen zu gefallen. Sie kultivierte deshalb einen Geschmack, von dem sie instinktiv spürte, dass er so spröde und herb war wie der sehr trockene Sherry, von dem Bertie annahm, sie trinke ihn ebenso gern wie er. Sie war denn auch, wenn sie zusammen Sherry tranken, stets zu einer anregenden Konversation bereit, die sie reichlich mit Anekdoten würzte, weil sie beobachtet hatte, dass ihn alles Persönliche, alles Emotionelle verlegen machte. Der Bedarf an Anekdoten hatte zur Ausweitung ihres Tätigkeitsfeldes geführt, was ihr jetzt zustatten kam. Durch ihre ehrenamtliche Tätigkeit am städtischen Krankenhaus hatte sie an Ernsthaftigkeit gewonnen, denn das, was sie von diesen Nachmittagen heimbrachte, war oft wenig erfreulich. Sie entwickelte sich schließlich zu einer glänzenden Gesellschafterin, und sie vergaß nie, Sherry nachzubestellen. Nachdem er ihr untreu geworden war, zog ihr Mann es vor, sie als gefühlskalte Frau zu sehen, obwohl er wusste, dass das nicht zutraf. Manchmal schaute er auf seinem abendlichen Heimweg bei ihr herein. Blanche hatte immer eine kleine Auswahl an leichtem Gesprächsstoff bereit, so wie sie auch über einige Vorräte in ihren Schränken verfügte. Sie selbst pflegte neuerdings, ziemlich regelmäßig Wein zu trinken.
Sie behielt auch ihr außerordentlich gepflegtes Äußeres bei, und zwar weniger, weil sie besonderen Wert darauf legte, als vielmehr deshalb, weil sie auf diese Weise viel überflüssige Zeit verbrau