: Petra Hartlieb
: Herbst in Wien Roman
: DuMont Buchverlag
: 9783832171124
: 1
: CHF 8.90
:
: Historische Romane und Erzählungen
: German
: 200
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wien 1916. In den letzten Jahren des Ersten Weltkriegs beginnen schwierige Jahre für den Wiener Buchhändler Oskar Novak und seine Frau Marie. Eine Verletzung erspart Oskar eine Rückkehr an die Front, doch Marie ahnt, dass er Dinge erlebt hat, die er wohl nie wieder vergessen wird. Hunger und Not prägen das Wien dieser Jahre, und die kleine Buchhandlung in der Währinger Straße wirft nicht genügend ab. Als die schlimmste Not gelindert ist, wartet das Schicksal 1919 mit einer neuen Prüfung auf: Die Spanische Grippe grassiert in Wien. Erst der Beginn des neuen Jahrzehnts bringt endlich wieder Licht in Maries und Oskars Leben. 1920 wird der kleine Paul geboren, und die Kunden kehren in die Buchhandlung zurück. Und mit der freigeistigen Freundin Fanni Gold kommt der Glanz der 1920er-Jahre: Nächtliche Theater- und Kaffeehausbesuche bringen Abwechslung. Doch was hat es mit diesen Frauenversammlungen auf sich, zu denen Fanni sie mitnehmen will? Ein Wahlrecht für Frauen - soll sich Marie ihrer Freundin in diesem Kampf anschließen?

PETRA HARTLIEB wurde 1967 in München geboren und ist in Oberösterreich aufgewachsen. Sie studierte Psychologie und Geschichte und arbeitete danach als Pressereferentin und Literaturkritikerin in Wien und Hamburg. 2004 übernahm sie eine Wiener Traditionsbuchhandlung, vormals »Buchhandlung Friedrich Stock« im Stadtteil Währing. Sie heißt heute »Hartliebs Bücher«. Davon erzählen ihre bei DuMont erschienenen Bestseller>Meine wundervolle Buchhandlung< und>Weihnachten in der wundervollen Buchhandlun

Die einzige Überlebende

Juni 1992, Linz

Alma wurde gegen neun Uhr wach, lag in ihrem Bett und horchte in die Stille, die über dem Haus lag. Kein Geräusch war zu hören, kein Klappern des Geschirrs, kein lautes Mozart-Violinkonzert, mit dem der Vater am Wochenende versuchte, die Töchter aus dem Bett zu scheuchen. Kein Geruch nach Kaffee und Toast, und als nach einer Viertelstunde noch immer niemand zum Frühstück rief, stellte Alma sich vor, ein schreckliches Unglück wäre über die Menschheit hereingebrochen, und sie wäre die einzige Überlebende auf Erden. Oder aber ihre Familie wäre entführt worden, und aus irgendeinem Grund hätte man sie vergessen, und sie konnte nun tun und lassen, was sie wollte, obwohl sie erst zwölf Jahre alt war. Alma liebte solche Tagträume. Was würde sie tun, wenn sie völlig ungestört wäre? Zunächst würde sie zwei Weißbrotscheiben dick mit Nougatcreme bestreichen und sich damit vor den Fernseher setzen. Keiner würde sich über Krümel oder Schokoflecken auf dem Sofa beschweren, ihr Vater würde keinen Vortrag über Karies halten, und sie könnte stundenlang im Schlafanzug vor der Glotze sitzen. Aber nein, das war kindisch, wäre sie wirklich die einzig Überlebende, würde sie sich selbstverständlich aufmachen, die Welt zu retten oder zumindest Spuren von Leben zu finden.

Aber was, wenn nur ihre Eltern weg wären? Dann würde sie wohl in ein Heim kommen oder zu Opa und Oma nach Tirol, obwohl die wahrscheinlich viel zu alt wären, um ein Kind aufzuziehen. Ihre eigenen Eltern waren ja schon ziemlich alt!

Vielleicht könnte sie dann mit Maria hier wohnen, die große Schwester war ja fast schon volljährig. War das erlaubt? Nun stand Alma doch auf, ging über den schmalen Flur ins Zimmer ihrer Schwester. Obwohl Maria ihr vor einem Jahr strikt verboten hatte, ohne anzuklopfen einzutreten, öffnete Alma leise die Tür. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, und die Sonne knallte durch das Fenster in ein perfekt aufgeräumtes Zimmer, leerer Schreibtisch, kein Kleiderhaufen auf dem Teppich. Auf dem Bett lag die faltenlose Tagesdecke, die Kuscheltiere saßen in einer ordentlichen Reihe am Kopfende und schienen Alma anzusehen. Hier hatte heute Nacht niemand geschlafen.

Alma dachte an den heftigen Streit, den Mutti gestern Nachmittag mit Maria gehabt hatte. Wieder einmal ging es um die Pflichten im Haushalt, um Sauberkeit und Ordnung und darum, dass Maria sich ihren Abend in die Haare würde schmieren können, wenn ihr Zimmer in so einem Zustand war. Danach hatte ihre große Schwester wütend und dadurch anscheinend höchst effizient ihr Reich in einen Top-Zustand versetzt. Hatte aufgeräumt und gesaugt, das Bett frisch bezogen und es mit der Tagesdecke bedeckt. Nicht mal eine Stunde hatte sie dafür gebraucht, und als sie fertig gewesen war, hatte sie sich an den oberen Treppenabsatz gestellt und gebrüllt: »Oberbefehlshaber Sturmbannführer, fertig zur Zimmerabnahme!«

Die Mutter war seufzend die Stiegen raufgegangen und hatte einen Blick durch die Tür geworfen. »Na siehst du, Maria. Geht doch«, hatte sie gemurmelt. »Um Mitternacht bist du daheim. Verstanden?«

»Jawohl, Herr Sturmbannführer! Ich wiederhole: Mitternacht.«

Alma wusste bisher nicht, dass es die Gesichtsfarbe »grau« gab. In ihrem großen Buntstiftkasten gab es einige Schattierungen rosa und eine Farbe, die war mit »Hautfarben« beschriftet. In der Straßenbahn sah man auch öfter Menschen mit dunkler Hautfarbe, und als sie kleiner gewesen war, hatte sie sie angestarrt, bis die Mutter ihr einen unsanften Stoß gab.

Nun saß Dorit Oberkofler mit grauem Gesicht am Küchentisch. Sie trug einen Bademantel über ihrem Nachthemd, obwohl es im Haus warm war. Ihre Hände lagen nebeneinander auf der Tis