Die einzige Überlebende
Juni 1992, Linz
Alma wurde gegen neun Uhr wach, lag in ihrem Bett und horchte in die Stille, die über dem Haus lag. Kein Geräusch war zu hören, kein Klappern des Geschirrs, kein lautes Mozart-Violinkonzert, mit dem der Vater am Wochenende versuchte, die Töchter aus dem Bett zu scheuchen. Kein Geruch nach Kaffee und Toast, und als nach einer Viertelstunde noch immer niemand zum Frühstück rief, stellte Alma sich vor, ein schreckliches Unglück wäre über die Menschheit hereingebrochen, und sie wäre die einzige Überlebende auf Erden. Oder aber ihre Familie wäre entführt worden, und aus irgendeinem Grund hätte man sie vergessen, und sie konnte nun tun und lassen, was sie wollte, obwohl sie erst zwölf Jahre alt war. Alma liebte solche Tagträume. Was würde sie tun, wenn sie völlig ungestört wäre? Zunächst würde sie zwei Weißbrotscheiben dick mit Nougatcreme bestreichen und sich damit vor den Fernseher setzen. Keiner würde sich über Krümel oder Schokoflecken auf dem Sofa beschweren, ihr Vater würde keinen Vortrag über Karies halten, und sie könnte stundenlang im Schlafanzug vor der Glotze sitzen. Aber nein, das war kindisch, wäre sie wirklich die einzig Überlebende, würde sie sich selbstverständlich aufmachen, die Welt zu retten oder zumindest Spuren von Leben zu finden.
Aber was, wenn nur ihre Eltern weg wären? Dann würde sie wohl in ein Heim kommen oder zu Opa und Oma nach Tirol, obwohl die wahrscheinlich viel zu alt wären, um ein Kind aufzuziehen. Ihre eigenen Eltern waren ja schon ziemlich alt!
Vielleicht könnte sie dann mit Maria hier wohnen, die große Schwester war ja fast schon volljährig. War das erlaubt? Nun stand Alma doch auf, ging über den schmalen Flur ins Zimmer ihrer Schwester. Obwohl Maria ihr vor einem Jahr strikt verboten hatte, ohne anzuklopfen einzutreten, öffnete Alma leise die Tür. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, und die Sonne knallte durch das Fenster in ein perfekt aufgeräumtes Zimmer, leerer Schreibtisch, kein Kleiderhaufen auf dem Teppich. Auf dem Bett lag die faltenlose Tagesdecke, die Kuscheltiere saßen in einer ordentlichen Reihe am Kopfende und schienen Alma anzusehen. Hier hatte heute Nacht niemand geschlafen.
Alma dachte an den heftigen Streit, den Mutti gestern Nachmittag mit Maria gehabt hatte. Wieder einmal ging es um die Pflichten im Haushalt, um Sauberkeit und Ordnung und darum, dass Maria sich ihren Abend in die Haare würde schmieren können, wenn ihr Zimmer in so einem Zustand war. Danach hatte ihre große Schwester wütend und dadurch anscheinend höchst effizient ihr Reich in einen Top-Zustand versetzt. Hatte aufgeräumt und gesaugt, das Bett frisch bezogen und es mit der Tagesdecke bedeckt. Nicht mal eine Stunde hatte sie dafür gebraucht, und als sie fertig gewesen war, hatte sie sich an den oberen Treppenabsatz gestellt und gebrüllt: »Oberbefehlshaber Sturmbannführer, fertig zur Zimmerabnahme!«
Die Mutter war seufzend die Stiegen raufgegangen und hatte einen Blick durch die Tür geworfen. »Na siehst du, Maria. Geht doch«, hatte sie gemurmelt. »Um Mitternacht bist du daheim. Verstanden?«
»Jawohl, Herr Sturmbannführer! Ich wiederhole: Mitternacht.«
Alma wusste bisher nicht, dass es die Gesichtsfarbe »grau« gab. In ihrem großen Buntstiftkasten gab es einige Schattierungen rosa und eine Farbe, die war mit »Hautfarben« beschriftet. In der Straßenbahn sah man auch öfter Menschen mit dunkler Hautfarbe, und als sie kleiner gewesen war, hatte sie sie angestarrt, bis die Mutter ihr einen unsanften Stoß gab.
Nun saß Dorit Oberkofler mit grauem Gesicht am Küchentisch. Sie trug einen Bademantel über ihrem Nachthemd, obwohl es im Haus warm war. Ihre Hände lagen nebeneinander auf der Tis