Kapitel 1
Mein Name ist Ian Farlowe, und die Geschichte, die ich Ihnen jetzt erzähle, ist ein wesentlicher Teil meiner Lebensgeschichte, soweit man in meinem Alter davon überhaupt sprechen kann. Alles begann an einem Freitag, als die Schule gerade aus war. Ich war gerade einmal siebzehn Jahre alt und besuchte das hiesige College. Nach dem Unterricht verließ ich mit den Schülern meiner Klasse das Gebäude, und als wir die große Steintreppe hinunterstiegen, sah ich auf dem Lehrerparkplatz fünfzig Meter vor mir ein Polizeifahrzeug stehen. An der hinteren, offenen Tür stand meine Großmutter Sophia und winkte mir zu. Ich winkte verhalten zurück, weil ich überhaupt nicht einordnen konnte, dass meine Oma mit einem Polizeifahrzeug angereist war.
Als ich näherkam, breitete sie beide Arme aus, um mich zu empfangen, und als ich schließlich vor ihr stand, umarmte sie mich tatsächlich. Wie Sie sich vorstellen können, Mrs. Blake, war mir das sehr peinlich. Wer lässt sich schon in meinem Alter von der Oma umarmen, und das auch noch in der Öffentlichkeit. Einige meiner Mitschüler grinsten, und ich hatte gerade vor, mich gegen die Umarmung zu wehren, da ließ sie auch schon los.
»Warum kommst du im Polizeitaxi?«, fragte ich scherzhaft.
»Setz dich erst einmal da hinein«, forderte sie mich auf und zeigte auf die hintere offene Tür.
»Was ist denn passiert? Papa wollte mich abholen, weil ich nachher noch Sportunterricht habe«, entgegnete ich. Ich schaute sie fragend an. »Ist irgendetwas passiert?«
Als wir saßen, schloss sie die Tür und ergriff meine Hand, und in diesem Moment ahnte ich nichts Gutes. Sie hatte plötzlich Tränen in den Augen.
»Deine Eltern sind beide mit dem Auto verunglückt«, quälte sie heraus. »Wir kommen gerade von der Unfallstelle. Der Notarzt war gleich da, aber er konnte nicht mehr helfen. Sie sind beide tot.«
Als sie den letzten Satz herausgepresst hatte, nahm sie mich wieder in die Arme, und dieses Mal war es mir sehr recht. Ich nahm die schlimme Nachricht relativ gelassen auf, was sicherlich daran lag, dass ich noch gar nicht richtig begriff, was mir meine Großmutter da erzählt hatte. Oder ich stand unter Schock, das kann ich für mich selbst nicht beurteilen. Auf der Fahrt erzählte sie mir dann, wie es zu dem Unfall gekommen war. Ein Traktor mit einem Gülleanhänger war von den Feldern auf die Landstraße eingebogen. In den tiefen Profilen seiner Reifen befand sich eine Menge Erde, die er auf der Straße verlor. Aber nicht nur das: Aus dem Güllefass ergoss sich noch ein kleines Rinnsal auf diese Erdbrocken, und so entstand eine schmierige Masse. Mein Vater sei beim Überholen auf diese glitschige Mischung geraten, ins Schleudern gekommen und gegen einen entgegenkommenden Lastwagen geprallt.
Als wir bei Großmutter zu Hause angekommen waren, nahm sie mich abermals in die Arme und drückte mich an sich. Glauben Sie mir, Mrs. Blake, ich war froh, dass sie sich so sehr um mich gekümmert hat. Ihre tröstenden Worte und ihre Wärme taten mir sehr gut.
»Ich fahre nachher noch einmal zu euch nach Hause und hole ein paar Sachen, die du brauchst, vor allem deine Toilettenartikel. Morgen besprechen wir dann, wie es weitergeht, und machen einen kleinen Umzug. Du wirst dich bei mir wohlfühlen, mein Liebling.«
Ich nickte zustimmend und war froh, dass sie mich so liebevoll umsorgte und das alles für mich organisierte.
Dann fuhr sie fort: »Ich habe in diesem kleinen Haus kein Gästezimmer, wie du weißt, und das Kinderzimmer habe ich zum Atelier umgewandelt, wo ich jetzt male«, begann sie vorsichtig, mir die vorläufige Situation zu erklären. »Ich habe nicht einmal ein Bett, das ich irgendwohin stellen könnte. Du wirst fürs Erste mit dem Bett von Opa Charles Vorlieb nehmen müssen, wenn es dir recht ist. Wenn nicht, musst du auf der Couch schlafen.«
Ich entschied mich für das Ehebett. Die Couch war mir zu unbequem. Bis ich elf oder zwölf Jahre alt war, schlief ich öfters bei meiner Großmutter, und zwar dann, wenn Opa Charles auf Reisen war. Er war Vertreter für irgendwelche Industrieprodukte und war manchmal tagelang unterwegs. Als Opa ganz plötzlich an einem Herzinfarkt starb, hat mich – natürlich nur in den Ferien – Oma zu sich geholt, und dann durfte ich in Opas Bett schlafen. Die Sache, die also jetzt auf mich zukam, war mir keinesfalls fremd, und so zögerte ich nicht, mich für das Bett neben Oma zu entscheiden.
Die erste Nacht war furchtbar. Wissen Sie, es gehen einem so viele Gedanken durch den Kopf, wenn man von einer Minute auf die andere seine Eltern verliert. Man hat einfach keinen klaren Kopf mehr.
Ich hatte zunächst einmal Angst, weil ich nicht wusste, wie das Leben weitergeht. Und dann war es einfach dieser Verlust, denn ich würde meine geliebten Eltern nie wiedersehen. Vor der Beisetzung hatte ich am meisten Bammel. Aus Filmen wusste ich, wie Kinder an den Särgen standen und Erwachsene sie damit trösteten, dass ihre Eltern jetzt in den Himmel zum lieben Gott kämen. Aber ich war siebzehn, da konnte mir doch keiner mehr einen solchen Schwachsinn erzählen. Ich wusste, dass sie mir fehlen würden, und das war das einzige, was für mich zählte.
In den folgenden Wochen hat meine Großmutter dann das Haus meiner Eltern vermietet, und es ging mir von Monat zu Monat besser. Vielleicht lag es daran, dass mich das Leben bei ihr voll ausfüllte. Sie sorgte für mich wie eine Mutter, und das ließ mich meine Sorgen allmählich vergessen oder verdrängen. Vielleicht lag das auch daran, dass mich plötzlich ganz andere Probleme beschäftigten.
Sie wollen sicher w