Unmittelbar vor der Coronakrise beherrschte noch ein ganz anderes Thema die Tagespolitik. Die Geschehnisse rund um die Thüringer Landtagswahl sind ebenfalls ein hervorragendes Beispiel, um das Psychogramm der zeitgenössischen Eliten in Politik, Medien und Kultur abzubilden. Der deutsche Historiker und ehemalige Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Dr. Hubertus Knabe, sieht im Eingreifen der Kanzlerin in die Thüringer Landtagswahl gar eine Zäsur und Politikwende, die in die Geschichtsbücher eingehen wird. Im Februar 2020 überschlagen sich die politischen Meldungen, von einem »Dammbruch« war die Rede, viele sprachen gar von einem »Zivilisationsbruch«. Letzteres Wort war mir bislang nur im Zusammenhang mit dem Holocaust bekannt, aus gutem Grund war seine Verwendung diesem singulären Ereignis vorbehalten. Ursache für die Verwendung derartiger Superlative war die Wahl des FDP-Mannes Thomas Kemmerich zum neuen Thüringer Ministerpräsidenten – mithilfe der Stimmen von FDP, CDU und AfD. Dass auch die AfD für Kemmerich gestimmt hatte, veranlasste die Leitmedien von der »Schande von Thüringen« zu sprechen. Angesichts des postulierten Rechtsrucks der Medien – manche sprachen gar von einem »FDP-CDU-AfD-Putsch« – folgte ein unmissverständliches Machtwort der Bundeskanzlerin. Angela Merkel, die gerade im fernen Südafrika weilte, nannte den Wahlvorgang im Thüringer Landesparlament »unverzeihlich«, das Wahlergebnis müsse »umgehend rückgängig« gemacht werden.
»Sie [Merkel] klassifiziert mit ›unverzeihlich‹ den Wahlakt eines Landesparlaments als Schuld, die nie abgetragen werden kann, als Vorgang, für den es keine Milderung gibt, auch nicht später. Damit begab sie sich, für viele in diesem konfusen Moment unbemerkt, in die singuläre Position einer politischen Kraft, die von einer Schuld lossprechen kann, oder, wie in diesem Fall, den Betreffenden die Verzeihung verweigert. Dass sich die Spitze der Exekutive als letzte Instanz sieht, die persönlich über Parlamentsabgeordnete richtet, sie öffentlich wägt und für moralisch unzurechnungsfähig erklärt – das gab es in der Geschichte der Bundesrepublik bis zu Merkels Pretoria-Auftritt noch nicht.«22
Unmittelbar nach der Thüringer Landtagswahl hatte Merkel alle Hände voll zu tun, ihren Koalitionspartner zu beruhigen. Unter neuer Führung von Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken brachte sich die SPD in Stellung für eine mögliche Fusion mit der Partei Die Linke. Die SPD plusterte sich auf und diktierte kurzerhand die Bedingungen für den Fortbestand der Berliner Koalition: Sofern der FDP-Mann Kemmerich Ministerpräsident bleibe, sei eine Fortführung der Koalition mehr als fraglich. Außerdem müsse die Schreckenstat des Ostbeauftragten Christian Hirte (CDU) gesühnt werden, denn dieser habe die Frechheit begangen, dem liberalen Thomas Kemmerich zur Wahl zu gratulieren. Damit habe Hirte seine bislang tadellose Karriere verwirkt und müsse umgehend entlassen werden.
»Der Co-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans forderte überdies eine Entschuldigung Kramp-Karrenbauers. ›Christian Lindner hat sich praktisch entschuldigt, das ist ein wichtiges Eingeständnis – das erwarten wir auch von Annegret Kramp-Karrenbauer‹, sagte Walter-Borjans.«23
Im Februar 2020 war es ein offenes Geheimnis, dass die SPD den PDS-Linken Bodo Ramelow gern wieder im Amt des Ministerpräsidenten gesehen hätte. Dies wiederum ging nummerisch ebenfalls nur mit den Stimmen