DIE GEMEINSAMEN ANFÄNGE
Gut sieben Jahrzehnte vor den dramatischen Ereignissen in Hinterstoder und in Wien war die politische Situation in Wien und in Österreich noch eine völlig andere. Wien war Weltmetropole, eine der größten Städte der westlichen Welt, die Hauptstadt eines riesigen multiethnischen Reiches, und die Habsburgermonarchie war dabei, ihre Modernisierungsrückstände aufzuholen. In den gut zwei Jahrzehnten, die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs noch vergehen sollten, nahmen auf der politischen Ebene vor allem die nationalen Spannungen gewaltig zu. Unter »Nation« verstand man damals »Sprachnation«, aber biologistische Sichtweisen verkomplizierten gerade in dieser Zeit die Diskussionen. Die Definitionen von »Nation«, die Theorien dazu und die Lösungsvorschläge zur »Nationalen Frage« nahmen in der Habsburgermonarchie großen Raum ein. Auch die junge Sozialdemokratie sah sich dadurch herausgefordert. Was sie zur Nationalen Frage an Theorie und Lösungsvorschlägen erarbeitete, sollte im ganzen 20. Jahrhundert den weltweiten Diskurs mit prägen. Auf diesen theoretischen Arbeiten fußt der »Austromarximus«12.
Anderseits machte aber die demokratische Mitsprache im Staat Fortschritte. 1896 schuf die Badenische Wahlrechtsreform eine allgemeine Wählerkurie. Nun waren alle Männer über vierundzwanzig, die seit mindestens drei Jahren die österreichische Staatsbürgerschaft besaßen und eine Sesshaftigkeit von zumindest einem Jahr nachweisen konnten, wahlberechtigt. Dieses Wahlrecht galt für die 5. Kurie, in der zwar fast alle Männer wählen durften, in der aber nur 72 der insgesamt 425 Sitze im österreichischen Reichsrat zu vergeben waren. Immerhin zogen vierzehn Sozialdemokraten ins Parlament ein, allesamt Vertreter der Industrieregionen außerhalb der Hauptstadt.
Die junge Arbeiterpartei hatte allerdings gerade erst ihre Häutungen hinter sich. Gut anderthalb Jahrzehnte rangen verschiedenste politische Positionen um den Führungsanspruch, Anarchisten, Syndikalisten, Lassalleaner und manche Splittergruppierung. Die Einigung war erst 1889 in Hainfeld gelungen, und die politische Feuerprobe wurde 1890 beim sogenannten »ersten Ersten Mai«13 bestanden, als man den öffentlichen Raum vor allem in Wien gewaltfrei und stolz besetzen konnte. Man war nicht länger staatsgefährdend