: Friedrich Christian Delius
: Die sieben Sprachen des Schweigens
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644009332
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein Gang mit Imre Kertész durch Jena. Ein befreiendes Erlebnis in Jerusalem. Eine Rückkehr aus dem Jenseits eines dreiwöchigen Komas. Drei elementare autobiographische Erfahrungen verdichtet Friedrich Christian Delius zu einem großen Text über das Widerspiel von Schweigen und Sprechen, wobei er das Schweigen als Ausgangspunkt und Angelpunkt allen Sprechens und Meinens würdigt. Delius erzählt von der Vielfalt und den Vorzügen des Schweigens ebenso anschaulich wie von Gesprächen, Missverständnissen und Überraschungen zwischen Schillers Gartenhaus und dem «Schwarzen Bären» in Jena, dem Tempelberg und den Krawatten in Jerusalem und den wilden Halluzinationen durch das eigene Seelengestrüpp während eines langen Delirs auf der Intensivstation. Ein Alterswerk, ein Buch der Erinnerung, so tiefgründig wie heiter, und zugleich ein konzentriertes Selbstporträt. Selten hat F.?C. Delius so viel preisgegeben, und selten werden so viele Fragen an das Leben, die ein jeder hat, so spielerisch elegant beantwortet - in Worten, die nicht gesprochen wurden, nun aber geschrieben stehen.

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.

Die Jerusalemer Krawatte


Eines Tages wäre die Geschichte der Jerusalemer Krawatte zu erzählen –

 

Eines Tages, das mag in ein paar Jahren sein oder Monaten oder irgendwann, wenn die Kräfte reichen, mit der Härte der Genauigkeit auf eines meiner schwierigsten Jahre zu blicken und gleichzeitig die Befreiung zu beschreiben, die ich dem alten Abraham und seinem Sohn Isaak verdanke und die mit einem ostereierbunten Stoffstreifen verknotet ist –

 

Vielleicht kein besonders schönes Stück, zu schmal, zu bunt, zu offensichtlich selbstgemacht, aber das Äußere ist nicht der Grund, weshalb ich, ohnehin kein leidenschaftlicher Schlipsträger, diese Krawatte nur selten um den Hemdkragen binde, auch nicht, weil die Batikmode eine Mode von vorgestern ist und ich ungern der Geschmacksverirrung bezichtigt werde –

 

Was mich hindert, sie bei Partys oder Empfängen oder größeren Tischrunden anzuziehen und mit den knalligen Farben unter dem Kinn aufzufallen, sind die leicht verstörten Blicke: Was hast du denn da an?, die ich früher, oft ohne laut gefragt zu sein, im milden Angeberton halb beantwortet, halb entschuldigt habe mit den Worten: eine Jerusalemer Krawatte –

 

Was schnell zu Konversationsgeplänkel über das Wie und Warum geführt und mich in die Verlegenheit gebracht hat, abwägen zu müssen, wie weit ich den Fragestellern mit Selbstauskünften, ja mit einem Reigen von Selbstauskünften entgegenkommen sollte –

 

Die, wenn ich einigermaßen bei der Wahrheit bliebe, bis auf die Höhen des Tempelbergs in Jerusalem, in hessische Dorfkirchen und zu einigen Quetschungen des Lebens, wie der alte Weimarer sagt, führen müssten, zu Selbstbespiegelungen und Bohrungen in die eigene Tiefenseele, was in einem Partygetümmel, bei einem kleinen Gesprächsgeplänkel über Form und Farbe einer Krawatte völlig übertrieben oder aufdringlich wäre –

 

Ich müsste noch weiter ausholen und sogar von meiner Schreibarbeit sprechen, und das ausgerechnet als einer, der Erzählungen von Schriftstellern, die von Schriftstellern erzählen, fast immer für überflüssig gehalten und vermieden hat, auch hier warteten zu viele Peinlichkeiten und Hindernisse –

 

Dabei gibt es keinen Grund, diese Krawatte zu verstecken oder nichts über sie zu erzählen, immer wieder drängt die zurückgehaltene und für mein Leben so zentrale Geschichte hervor, immer wieder wünsche ich mir die nötige Gelassenheit für einen Bericht, und der Vorsatz, hin und wieder von einigen biographischen Belustigungen zu erzählen, wird ohne dies schmale, bunte Stück Stoff nur schlecht gelingen –

 

Nach so vielen Andeutungen hier also ein paar Stichworte, die zur kürzestmöglichen Version der Geschichte der Jerusalemer Krawatte gehören sollten –

 

Einladungen, mit einem eigenen Buch auf Reisen zu gehen und daraus gegen Honorar zu lesen, sich vom geneigten Publikum ermuntern und in zuweilen anstrengende Gespräche verwickeln zu lassen, habe ich in den achtziger und neunziger Jahren nur ausnahmsweise annehmen können, für einen Familienvater, der möglichst viel Rücksicht zu nehmen versuchte auf das Wohlergehen zweier Schulkinder und der angetrauten Professorin,