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Der Regen trommelte auf die Grabplatten des Nordfriedhofs von Reims. Das Wasser troff von den schmalen Säulen und Stelen, den kleinen Gruften und Mausoleen aus beigem oder grauem Sandstein und weißem Marmor. In den Blechdosen, die Besucher den herumstreunenden Katzen hingestellt hatten, schwamm aufgeweichtes Futter. Viele der alten Gräber der ersten Champagnerdynastien waren verwittert, von Moos überwachsen und wirkten wie verwunschen. Und doch zeugten ihre immer noch stolz in die Höhe ragenden Türmchen, Giebel und Kuppeln von Größe. Ein paar »Cheese«-Rufe von kreischenden amerikanischen und asiatischen Touristen, die sich in ihren bunten Regenjacken vor dem Mausoleum der alten Veuve Clicquot gegenseitig fotografierten, tönten herüber.
Bendix Kaldevin fühlte sich in seinem Anzug, über den er einen dunklen Gabardinemantel gezogen hatte, klamm und begossen. Er war groß und schlank und bot dem Regen viel Angriffsfläche. Die blonden Haare fielen ihm nass über Stirn, Ohren und Kragen. Immer wieder wischte er sich die Wassertropfen, die von seiner Nase auf das markante Kinn herabträufelten, mit einem Einstecktuch weg. Als Madame Kahnweiler, die Chefin des Beerdigungsinstitutes, ihn gebeten hatte, eine Trauerrede auf Henri Armand zu halten, hatte er sofort zugestimmt. Trauerreden halten konnte er. Zwar war es nicht einfach, über den alten Armand, der nun mit dreiundachtzig Jahren gestorben war, zu sprechen. Immerhin handelte es sich um den Patriarchen, den heimlichen König der Champagne. Doch Bendix mochte Herausforderungen. Dass der heutige Tag eine Kette von Ereignissen auslösen würde, die sein Leben für immer veränderten, konnte er nicht ahnen.
Seit sieben Jahren arbeitete Bendix als Trauerredner. Er war Mitte dreißig, als ihn Bart Lasalle, die rechte Hand von Madame Kahnweiler, auf die Idee gebracht hatte, Trauerreden zu halten. Sie waren seit der Kindheit befreundet. Bendix hatte an der Sorbonne Philosophie und Rhetorik studiert, und Bart wusste, dass sein Freund nicht nur in der Theorie gut war, sondern Reden auch schreiben und halten konnte. Er hatte ihn in der Kathedrale von Reims erlebt, als er aus Anlass ihrer Achthundert-Jahr-Feier 2011 eine leidenschaftliche Rede über den Champagner als die eleganteste Droge der Könige gehalten hatte.
Bendix gefiel Barts Vorschlag. Denn er kannte den emotionalen Zustand, den Trauer auslöste. Und die Möglichkeit, Menschen in ihrer Trauer Trost zu spenden, erfüllte ihn. Er war noch keine zwanzig Jahre alt, als sein acht Jahre älterer Bruder André tot in der Marne gefunden wurde. André war ein Vorbild für ihn gewesen, dem er immer nachzueifern versuchte. Die Umstände seines Todes wurden nie ganz geklärt. Der Verlust des Bruders hinterließ in Bendix eine Leere, die er anfangs kaum zu füllen wusste. Er musste lernen, mit dem Trauma zu leben, und entwickelte allmählich ein besonderes Händchen für den Tod. Immer wenn in seinem Umfeld jemand starb, wusste er sofort, was zu tun war. Er meldete sich bei den Betroffenen, ging ohne Scheu auf sie zu und versuchte zu helfen. Und sei es, dass er ihnen ein Stück Kuchen brachte. Der Schmerz um seinen Bruder hatte ihn jedoch nie ganz verlassen.
Bendix blickte über die Ansammlung der Trauergäste. Er kannte viele von ihnen, Winzer, Gastronomen, Stadträte und Familien aus der Region. Er stammte selbst aus einer Winzerfamilie, wenn auch