: Fjodor Dostojewski
: Der Idiot. Band 4 von 4 Mit Anmerkungen und einem Essay
: apebook Verlag
: 9783961303878
: 1
: CHF 1.80
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: Erzählende Literatur
: German
Fürst Myschkin tritt nach einem fünfjährigen Sanatoriumsaufenthalt in die Petersburger Gesellschaft ein. Durch seine vorherige Isolation hat er sich kindlich wirkende Verhaltensweisen bewahrt, wodurch er in den Augen der anderen ein weltfremder Sonderling ist, den man bestenfalls belächelt. Dem intriganten Treiben sind seine Naivität, Offenheit und Ehrlichkeit wehrlos ausgesetzt, sein Ideal der gelebten Menschenliebe trifft auf Unverständnis. Myschkins Versuche, den Menschen zu helfen, wie auch seine Versuche, sich aus den gesellschaftlichen und persönlichen Verstrickungen, in die er gerät, zu befreien, sind zum Scheitern verurteilt. 'Der Idiot' zählt zu den bekanntesten Werken des russischen Schriftstellers Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881). Der Roman wurde zuerst in Fortsetzungen zwischen 1868 und 1869 in der Zeitschrift 'Russki Westnik' veröffentlicht. Die vorliegende Ausgabe folgt der Übertragung ins Deutsche von Hermann Röhl (1851-1923), ist mit erläuternden Anmerkungen versehen und enthält im letzten Band zusätzlich einen Essay über Dostojewski vom österreichischen Schriftsteller und Literaturkritiker Hermann Bahr. Dieses ist der vierte von vier Bänden. Der Umfang entspricht ca. 250 Druckseiten.

I


 

Es war ungefähr eine Woche seit dem Tag vergangen, an welchem die beiden Personen, von denen unsere Erzählung handelt, das Rendezvous auf der grünen Bank gehabt hatten. An einem heiteren Vormittag gegen halb elf Uhr kehrte Warwara Ardalionowna Ptizyna, die ausgegangen war, um eine ihrer Bekannten zu besuchen, in sehr nachdenklicher, trüber Stimmung nach Hause zurück.

Es gibt Leute, von denen man schwer etwas derartiges sagen kann, daß sie dadurch mit einemmal und vollständig uns in ihrer charakteristischen Erscheinung vor Augen gestellt würden; das sind diejenigen, die man meist als »Leute gewöhnlicher Art«, als »die Masse« bezeichnet, und die tatsächlich in allen Gesellschaftskreisen die weit überwiegende Majorität bilden. Die Schriftsteller bemühen sich in ihren Romanen und Novellen größtenteils, aus der Gesellschaft solche Charaktere herauszugreifen und eigenartig und künstlerisch darzustellen, wie sie in der Wirklichkeit nur ganz selten anzutreffen sind, Charaktere, die aber trotzdem fast wirklicher sind als die Wirklichkeit selbst. Podkolesin1 in seiner charakteristischen Gestalt ist vielleicht eine Übertreibung, aber durchaus nicht eine bloße Erdichtung. Unzählige kluge Leute, die Podkolesin durch Gogol kennengelernt haben, haben sofort zwischen Podkolesin und Dutzenden, ja Hunderten ihrer guten Freunde und Bekannten eine überraschende Ähnlichkeit gefunden. Sie haben auch vor Gogol gewußt, daß diese ihre Freunde Leute von Podkolesins Art waren, haben aber nur noch nicht gewußt, daß sie gerade so hießen. In der Wirklichkeit sind Bräutigame, die vor der Hochzeit aus dem Fenster springen, äußerst selten, weil das, von andern Gründen abgesehen, gar zu unbequem ist; aber trotzdem: Wieviele Bräutigame, sogar achtbare, verständige Männer, haben nicht vor der Trauung in der Tiefe ihrer Seele die Empfindung gehabt, daß sie Podkolesins seien! Ebenso rufen ja auch nicht alle Männer bei jedem Schritt: »Tu l'as voulu, George Dandin!« Aber, o Gott, wie viele millionen- und billionenmal ist von den Männern der ganzen Welt dieser Aufschrei des Herzens nach den Flitterwochen, ja, wer weiß, vielleicht schon am Tag nach der Hochzeit wiederholt worden!

Wir wollen also, ohne uns auf ernsthaftere Erklärungen einzulassen, nur sagen, daß in der Wirklichkeit das eigentlich Typische der Charaktere gewissermaßen mit Wasser verdünnt ist, und daß alle diese George Dandins und Podkolesins wirklich existieren und alle Tage, wenn auch in etwas verdünntem Zustand, an uns vorüberhuschen und vorüberlaufen. Der Vollständigkeit halber wollen wir schließlich noch bemerken, daß einem auch ein ganzer George Dandin, wie ihn Molière geschaffen hat, in der Wirklichkeit begegnen kann, wenn auch nur selten, und damit unsere Betrachtung abschließen, die einem Artikel in einer Monatsschrift ähnlich zu werden beginnt. Indes bleibt immer noch die Frage zu beantworten: was soll der Romanschriftsteller mit den Alltagsmenschen, den Leuten von ganz gewöhnlicher Art anfangen, und wie soll er sie dem Leser vorführen, um sie ihm einigermaßen interessant zu machen? Sie in der Erzählung ganz zu übergehen, ist untunlich, weil die Alltagsmenschen immer und überall das unumgängliche Bindeglied der Ereignisse des Lebens bilden. Wollte man einen Roman, um Interesse zu erregen, nur mit scharf ausgeprägten Charakteren oder gar nur mit seltsamen, nie dagewesenen Persönlichkeiten anfüllen, so würde man damit gegen die Wahrscheinlichkeit verstoßen und vielleicht sogar uninteressant werden. Unserer Ansicht nach muß sich der Schriftsteller bemühen, auch an den Alltagsmensc