: Fjodor Dostojewski
: Der Idiot. Band 3 von 4 Mit Anmerkungen (und einem Essay im letzten Band)
: apebook Verlag
: 9783961303861
: 1
: CHF 1,80
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: Erzählende Literatur
: German
Fürst Myschkin tritt nach einem fünfjährigen Sanatoriumsaufenthalt in die Petersburger Gesellschaft ein. Durch seine vorherige Isolation hat er sich kindlich wirkende Verhaltensweisen bewahrt, wodurch er in den Augen der anderen ein weltfremder Sonderling ist, den man bestenfalls belächelt. Dem intriganten Treiben sind seine Naivität, Offenheit und Ehrlichkeit wehrlos ausgesetzt, sein Ideal der gelebten Menschenliebe trifft auf Unverständnis. Myschkins Versuche, den Menschen zu helfen, wie auch seine Versuche, sich aus den gesellschaftlichen und persönlichen Verstrickungen, in die er gerät, zu befreien, sind zum Scheitern verurteilt. 'Der Idiot' zählt zu den bekanntesten Werken des russischen Schriftstellers Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881). Der Roman wurde zuerst in Fortsetzungen zwischen 1868 und 1869 in der Zeitschrift 'Russki Westnik' veröffentlicht. Die vorliegende Ausgabe folgt der Übertragung ins Deutsche von Hermann Röhl (1851-1923), ist mit erläuternden Anmerkungen versehen und enthält im letzten Band zusätzlich einen Essay über Dostojewski vom österreichischen Schriftsteller und Literaturkritiker Hermann Bahr. Dieses ist der dritte von vier Bänden. Der Umfang entspricht ca. 250 Druckseiten.

I


 

Es wird bei uns fortwährend darüber geklagt, daß es keine Praktiker gebe; Politiker zum Beispiel gebe es eine Menge, desgleichen eine Menge von Generalen; auch könne man Direktoren aller Art auf der Stelle so viele finden, als man nur irgend wolle; aber an Praktikern mangle es. Wenigstens ist es die allgemeine Klage, daß es daran mangle. Selbst bei manchen Eisenbahnen ist, wie man sagt, kein ordentliches Personal vorhanden; bei einer Dampfschiffahrts-Gesellschaft einen halbwegs erträglichen Betrieb herzustellen, ist, wie es heißt, ein Ding der Unmöglichkeit. An einer Stelle sind, wie man hört, auf einer neu eröffneten Strecke ein paar Züge zusammengestoßen oder mit einer zusammenbrechenden Brücke hinabgestürzt; an einer andern Stelle hat, wie man in der Zeitung liest, ein Zug mitten in einem Schneefeld beinah überwintern müssen: die Passagiere waren ausgefahren in der Erwartung, daß die Fahrt einige Stunden dauern werde, und mußten fünf Tage im Schnee zubringen. Wieder an einer andern Stelle faulen, wie erzählt wird, viele tausend Pud Ware auf ein und demselben Fleck, zwei, drei Monate lang in Erwartung des Abtransports, und der betreffende Expedient hat dem Vernehmen nach (es ist übrigens kaum zu glauben) dem kaufmännischen Kommis, der auf die Absendung seiner Ware drang, statt sein Verlangen zu erfüllen, einen Schlag ins Gesicht versetzt und dann sein Benehmen damit entschuldigt, daß er sagte, er sei »in Eifer geraten«. Im Staatsdienst haben wir, wie es scheint, so viele Ämter, daß es einem angst und bange wird, wenn man nur daran denkt; alle Leute haben Ämter bekleidet, tun es jetzt oder beabsichtigen, es zu tun; warum ist es da nicht möglich, aus einem so großen Menschenmaterial ein anständiges Betriebspersonal bei einer Dampfschiffahrts-Aktiengesellschaft zu bilden?

Auf diese Frage wird manchmal eine sehr einfache Antwort gegeben, eine so einfache Antwort, daß eine solche Erklärung kaum für richtig gehalten werden kann. Man sagt nämlich: allerdings haben bei uns alle Leute Ämter bekleidet oder tun es noch, und dieser Zustand dauert nun nach dem schönsten deutschen Vorbild schon zweihundert Jahre, von den Urgroßvätern bis zu den Urenkeln; aber gerade die Beamten sind ja die unpraktischsten Menschen, und es ist so weit gekommen, daß das rein abstrakte Wissen und der Mangel an praktischen Kenntnissen sogar unter den Beamten selbst noch vor kurzem fast als die größte Tugend und Empfehlung galt. Übrigens sind wir zweckloserweise auf die Beamten zu reden gekommen; wir wollten eigentlich von Praktikern sprechen. Auf diesem Gebiet unterliegt es keinem Zweifel, daß Schüchternheit und völliger Mangel an eigener Initiative dauernd bei uns als das wichtigste und beste Merkmal eines Praktikers gegolten haben und sogar noch heutzutage dafür gelten. Aber wozu sollen wir nur uns selbst beschuldigen – wenn anders es eine Beschuldigung ist, von jemand zu sagen, daß er diese Anschauung hat? Der Mangel an Originalität hat überall in der ganzen Welt von den Urzeiten her immer für die vorzüglichste Eigenschaft und beste Empfehlung eines tüchtigen Geschäftsmannes und Praktikers gegolten, und mindestens neunundneunzig Prozent der Menschen (das ist sogar noch ein sehr niedriger Ansatz) sind immer dieser Ansicht gewesen, und immer nur vielleicht ein Prozent urteilte und urteilt darüber anders.

Erfinder und Genies sind sehr oft beim Beginn ihrer Laufbahn (und sehr oft auch am Ende derselben) für nichts anderes als für Dummköpfe gehalten worden; das ist eine ganz geläufige Beobachtung, eine allgemein bekannte Tatsache. Wenn zum Beispiel mehrere Jahrzehnte lang alle Leute ihr Geld nach der Leihbank trugen und Milliarden dorthin zusa