: Fjodor Dostojewski
: Der Idiot. Band 2 von 4 Mit Anmerkungen (und einem Essay im letzten Band)
: apebook Verlag
: 9783961303854
: 1
: CHF 1.80
:
: Erzählende Literatur
: German
Fürst Myschkin tritt nach einem fünfjährigen Sanatoriumsaufenthalt in die Petersburger Gesellschaft ein. Durch seine vorherige Isolation hat er sich kindlich wirkende Verhaltensweisen bewahrt, wodurch er in den Augen der anderen ein weltfremder Sonderling ist, den man bestenfalls belächelt. Dem intriganten Treiben sind seine Naivität, Offenheit und Ehrlichkeit wehrlos ausgesetzt, sein Ideal der gelebten Menschenliebe trifft auf Unverständnis. Myschkins Versuche, den Menschen zu helfen, wie auch seine Versuche, sich aus den gesellschaftlichen und persönlichen Verstrickungen, in die er gerät, zu befreien, sind zum Scheitern verurteilt. 'Der Idiot' zählt zu den bekanntesten Werken des russischen Schriftstellers Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881). Der Roman wurde zuerst in Fortsetzungen zwischen 1868 und 1869 in der Zeitschrift 'Russki Westnik' veröffentlicht. Die vorliegende Ausgabe folgt der Übertragung ins Deutsche von Hermann Röhl (1851-1923), ist mit erläuternden Anmerkungen versehen und enthält im letzten Band zusätzlich einen Essay über Dostojewski vom österreichischen Schriftsteller und Literaturkritiker Hermann Bahr. Dieses ist der zweite von vier Bänden. Der Umfang entspricht ca. 250 Druckseiten.

II


 

Es war Anfang Juni, und das Wetter war in Petersburg schon eine ganze Woche lang außerordentlich schön gewesen. Jepantschins besaßen ein prächtiges eigenes Landhaus in Pawlowsk. Lisaweta Prokofjewna bekam es auf einmal mit der Unruhe und trieb zum Aufbruch; nach kaum zwei Tagen geschäftiger Tätigkeit zogen sie um.

Einen oder zwei Tage nach dem Umzug der Familie Jepantschin traf Fürst Ljow Nikolajewitsch Myschkin mit dem Morgenzug aus Moskau ein. Es war niemand zu seinem Empfang auf dem Bahnhof erschienen; aber beim Aussteigen aus dem Waggon kam es ihm auf einmal so vor, als ob aus der Menge, die die mit dem Zug Angekommenen umdrängte, der seltsame, brennende Blick zweier Augen auf ihn gerichtet sei. Als er jedoch aufmerksamer hinschaute, konnte er nichts mehr wahrnehmen. Gewiß war es ihm nur so vorgekommen; aber es blieb doch bei ihm eine unangenehme Empfindung zurück. Zudem war der Fürst auch ohnedies traurig und nachdenklich und schien aus irgendeinem Grund in Sorge zu sein.

Ein Droschkenkutscher fuhr ihn nach einem Gasthof in der Litejnajastraße. Das Gasthaus war sehr gering. Der Fürst erhielt zwei kleine, dunkle, schlecht möblierte Zimmer, wusch sich und kleidete sich um; dann ging er, ohne etwas zu genießen, eilig aus, wie wenn er Zeit zu verlieren oder jemanden nicht zu Hause zu treffen fürchtete.

Wenn einer von den Leuten, die ihn vor einem halben Jahr bei seinem ersten Aufenthalt in Petersburg kennengelernt hatten, ihn jetzt gesehen hätte, so würde er vielleicht gefunden haben, daß sein Äußeres sich sehr vorteilhaft verändert habe. Und doch war das kaum der Fall. Nur die Kleidung war eine völlig andere geworden: er trug jetzt einen in Moskau von einem guten Schneider gearbeiteten Anzug; aber dieser Anzug hatte einen Fehler: er war gar zu sehr nach der Mode angefertigt (wie das gewissenhafte, aber nicht sehr talentvolle Schneider immer machen), und noch dazu für einen Menschen, der darauf nicht den geringsten Wert legte, so daß ein besonders Lachlustiger bei einem aufmerksamen Blick auf den Fürsten vielleicht Anlaß genommen hätte zu lächeln. Aber was kommt den Leuten nicht alles lächerlich vor.

Der Fürst nahm eine Droschke und fuhr nach den Peski1 . In einer der Straßen der Roschdestwenskaja fand er bald ein kleines Holzhäuschen. Zu seiner Verwunderung präsentierte sich dieses Häuschen äußerlich recht hübsch: es war sauber, gut in Ordnung gehalten und mit einem Vorgarten versehen, in welchem Blumen wuchsen. Die Fenster nach der Straße zu waren geöffnet, und aus ihnen wurde ein lautes, unaufhörliches Sprechen vernehmbar, ja fast ein Schreien, wie wenn jemand laut läse oder eine Rede hielte; ab und zu wurde diese Stimme durch das Lachen mehrerer anderer heller Stimmen unterbrochen. Der Fürst ging auf den Hof hinein, stieg ein paar Stufen hinan und fragte nach Herrn Lebedjew.

»Da ist er«, antwortete die Köchin, die die Tür geöffnet hatte. Sie hatte die Ärmel bis zum Ellbogen aufgestreift und wies mit dem Finger nach dem »Salon«.

In diesem Salon, der dunkelblau tapeziert war, und dessen sauberes Mobiliar einigen Anspruch auf Eleganz erhob (es befanden sich dort ein runder Tisch, ein Sofa, eine Bronzeuhr unter einem Glassturz, ein schmaler Spiegel am Fensterpfeiler und ein sehr altertümlicher kleiner Kronleuchter mit Glasprismen, der an einer bronzenen Kette von der Decke herabhing), mitten in diesem Zimmer stand Herr Lebedjew in eigener Person, mit dem Rücken nach dem eintretenden Fürsten zu, sommerlich gekleidet