2. KAPITEL
Als Ivy eine Woche später um die Mittagszeit in San Francisco aus dem Flugzeug stieg, wusste sie nicht, wer oder was sie erwartete. Morgens hatte sie in Mr. Varos’ Büro angerufen, um ihm mitzuteilen, wann sie ankommen würde, ihn aber nicht persönlich sprechen können. Die Sekretärin am Apparat hatte ihr jedoch versichert, dass sie die Nachricht weiterleiten würde.
Hoffentlich werde ich auch abgeholt, dachte Ivy, während sie den langen Gang entlangstöckelte und ein ums andere Mal Mitpassagieren auswich, die unvermittelt stehen blieben, um Freunde oder Angehörige zu begrüßen. In den vergangenen Tagen hatte sie sich wiederholt gefragt, ob es richtig gewesen war, diesen Job anzunehmen. Auch konnte sie sich noch immer nicht recht vorstellen, dass Mr. Varos oder überhaupt irgendjemand sich so großmütig zeigte, ihr unter den gegebenen Umständen den Auftrag zu erteilen. Was, wenn es sich vielleicht nur um einen üblen Scherz handelte und sie am Ende umsonst hergekommen war? Diese Möglichkeit konnte sie nicht völlig ausschließen.
Im Terminal für Inlandsflüge herrschte ein geschäftiges Treiben. Ivy blieb bei einer Säule stehen, wo sie niemandem den Weg versperrte, und stellte die Reisetasche ab, die sie mit an Bord genommen hatte. Suchend blickte sie sich um. Wie würde ihr „Abholer“ – falls es ihn überhaupt gab – sie erkennen? Hatte man ihm oder ihr das Bild gezeigt, das sie Mr. Varos geschickt hatte, bevor die Hochzeit arrangiert worden war?
Was ist das doch für eine seltsame Situation, dachte sie wohl zum tausendsten Mal innerhalb der letzten sieben Tage. Erst wies sie Mr. Varos zurück, dann rief er sie in ihrem Hotelzimmer an, bot ihr den tollen Job an, das alte Herrenhaus zu renovieren, und beendete das Telefonat, bevor sie ihm wirklich eine Zusage erteilt hatte.
Immer wieder hatte sie während der vergangenen Woche überlegt, ob sie den Auftrag nicht doch noch ablehnen sollte. Sie hatte sich sogar Fotos von dem einstigenGladingstone House herausgesucht, und schon die Bilder hatten sie gewaltig beeindruckt. Das Anwesen aus nächster Nähe zu sehen würde ihr bestimmt den Atem rauben. Und daran mitzuwirken, das alte Gemäuer wieder in seinem vollen Glanz erstrahlen zu lassen, war eine einzigartige Gelegenheit, von der man im Leben nur träumen konnte.
Allerdings war das nicht der Hauptgrund, warum sie nach San Francisco zurückgekehrt war. Sie, Ivy,schuldete Mr. Varos etwas, weil sie ihm gegenüber ihr Wort gebrochen hatte. Und sie wusste, dass sie in ihrem Beruf sehr gut war. Sie würde den Auftrag ausgezeichnet erledigen und all ihr Können einbringen, um ihn für das gebrochene Versprechen zu entschädigen.
Nervös strich sie sich über die blaue Kostümjacke. Wenn ihr doch nur die Füße nicht so wehtun würden! Doch auf die hochhackigen Schuhe hatte sie unmöglich verzichten können. Sie hatte sich wie eine erfolgreiche Geschäftsfrau gekleidet, um einen erstklassigen Eindruck zu machen. Auch wenn sie Mr. Varos nicht begegnen würde, sollte ihm doch kein schlechtes Wort über sie oder ihre Arbeit zu Ohren kommen. Alles würde bestens laufen, und sie würde ihm beweisen, dass er ihr zu Recht vertraute.
Immer wieder blickte Ivy sich um und lächelte jeden an, der sich ihr näherte, in der Hoffnung, es könnte ihr „Abholer“ sein. Nach einer Dreiviertelstunde vergeblichen Wartens brachten ihre schmerzenden Füße sie fast um, und auch ihre Gesichtsmuskeln begannen, von dem vielen unnötigen Lächeln wehzutun. Warum hatte sie sich auch nicht hingesetzt?