KAPITEL 1
Näher, mein Mord, zu dir
Die Leiche lag in der Bibliothek. Ein kreisrunder Blutfleck verschandelte den teuren Perserteppich vor dem Kamin – und ein gusseiserner Schürhaken verschandelte die Stirn des Toten. Lord Montgomery war gestorben, wie er gelebt hatte: mit gnadenloser Härte.
»Niemand betritt den Raum!«, befahl Chief Inspector Timothy Smart. Er hatte sich als Erster gefangen. Nun hinderte er seine Begleiter daran, sich dem Opfer zu nähern. »Sie können ihm nicht helfen. Niemand kann das. Also seien Sie vernünftig und lassen Sie mich meine Arbeit erledigen. Denn eins ist gewiss, Gentlemen: Der Täter muss sich noch unter uns befinden. Gleich hier in Ghostwood Hall!«
»Na, das wüsste ich aber!«
Klaas Heiland sah von dem Kriminalroman auf, in dem er las, und kehrte in die Wirklichkeit zurück. Fragend drehte er den Kopf in die Richtung, aus der die wütende Stimme drang. »Wie bitte?«
»Das da, meine ich!«
Ein Mann mittleren Alters kam auf ihn zu. Er hatte absolut nichts mit Inspector Smart, dem besten Mann von Scotland Yard, gemeinsam. Und das fing schon bei der Optik an: Er war schmächtig und blond. Ein viel zu dichter Vollbart und zwei viel zu dicke Brillengläser waren die hervorstechendsten Merkmale seines blassen Gesichts und nicht ansatzweise so gepflegt wie die Dienstkleidung der Deutschen Bahn, die er ebenfalls trug und die so makellos aussah, als sei sie erst vor fünf Minuten aus der Schneiderei gekommen.
»Hier wird nicht herumgelungert, verstanden?«, beschwerte sich der Fremde. »So etwas mögen wir in Sonntal nicht!«
Herumgelungert? Heiland hob eine Braue. Mit einem Mal waren Ghostwood Hall und das Rätsel um Lord Montgomerys gewaltsames Ableben vergessen. Stattdessen wanderte sein Blick zu seinen beiden schweren Koffern, die neben ihm am Boden des Bahnsteigs standen, und zu dem schwarzen Mantel, der sorgsam gefaltet auf der Rückenlehne seiner von der Sonne gewärmten Holzbank ruhte. »Ich fürchte, da liegt ein Missverständnis vor«, sagte er schmunzelnd. »Ich bin gerade angekommen und …«
Sein Gegenüber war nicht an Erklärungen interessiert. »Nicht gerade erst, sondern vor exakt achtzehn Minuten und dreiunddreißig Sekunden«, erwiderte der Blonde und zückte demonstrativ eine Taschenuhr aus seiner perfekt sitzenden Bahn-Weste. »Seitdem sitzen Sie da, gucken Löcher in die Luft und blättern in diesem Taschenbuch. Das kann ich vom Ticketschalter aus tadellos beobachten.« Es klang wie das Plädoyer eines Staatsanwalts, der die Höchststrafe forderte – mindestens.
Heiland lachte, diesmal aber innerlich. Achtzehn Minuten? Er vergaß gern die Zeit, wenn er sich irgendwo wohlfühlte. Außerdem lernte man einen Ort erst dann richtig kennen, wenn man Geduld mit ihm hatte.
»Und weil der nächste Zug erst in einundsiebzig Minuten und zwölf Sekunden hier eintrifft«, fuhr sein ungeduldiges Gegenüber fort, »werden Sie wohl kaum auf den warten. Daraus folgt: Sie lungern herum. Und wie die Sonntaler Bahnhofsregel Numero Sieben besagt, wird jeglicher Aufenthalt über fünfzehn Minuten als Herumlungern interpretiert, wenn …«
Abwehrend winkte Heiland mit dem Kriminalroman. »Sie kennen Ihren Fahrplan gut, das muss ich Ihnen lassen, Herr …«
»Winkelhuber. Severin Winkelhuber.« Der andere deutete auf sein silbrig schimmerndes Namensschild, als wäre es ein Orden. »Selbstverständlich kenne ich den Fahrplan, denn ich bin der Vorsteher dieser gesamten Anlage hier. Und als solchermuss ich Sie auffordern, unverzüglich den Bahnhof zu verlassen. Wenigstens bis zur Einfahrt des Spätzuges.«
Schmunzelnd ve