: Elise Hooper
: Fast Girls Berlin 1936 - Drei Frauen auf dem Weg, Geschichte zu schreiben
: Aufbau Verlag
: 9783841228277
: 1
: CHF 12.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 576
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Drei Heldinnen der Geschichte und ihr Traum vom Laufen als Weg zur Freiheit  

1936 - trotz aller Vorbehalte gegen die Teilnahme von Frauen gelingt es drei jungen Amerikanerinnen, mit dem Olympischen Team nach Berlin zu reisen: Betty Robinson muss sich nach einem schweren Unfall an die Spitze zurückkämpfen. Die burschikose Außenseiterin Helen Stephens träumt davon, sich als Sprinterin zu beweisen. Und die Schwarze Louise Stokes sieht im Laufen ihre Chance, trotz ihrer Hautfarbe endlich Anerkennung zu finden. Doch als die drei in der hochbrisanten Atmosphäre Berlins um den Titel der schnellsten Frau der Welt laufen wollen, müssen sie erfahren, dass Leistung nicht das Einzige ist, was zählt ...  

Die unglaubliche Geschichte dreier Frauen, die antraten, um die Welt zu verändern.



Elise Hooper schrieb mehrere Jahre fürs Fernsehen, bevor sie an die Uni zurückging, um zu studieren und Literatur und Geschichte zu unterrichten. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in Seattle. Ihre Romane drehen sich um jene historischen Frauenfiguren, die von der Geschichtsschreibung oft übersehen werden. Im Ringen dieser Frauen um Anerkennung erkennt Elise Hooper vieles, was uns helfen könnte, auch unsere eigene Zeit besser zu verstehen. Annette Hahn studierte Englische Literaturwissenschaft und Literarische Übersetzung in München und lebt heute in Münster. Sie übertrug unter anderem Graeme Simsion, Anne Fortier und Jesse Q. Sutanto ins Deutsche.

Kapitel 1


Juli 1928 
New York City,NY

Noch ehe sie das Zimmer im Prince George Hotel verließen, warnte Mrs. Robinson ihre Tochter, an Bord des Dampfschiffes ja vorsichtig zu sein und sich vor den Mädchen aus Kalifornien in Acht zu nehmen. Bestimmt sei das ein leichtsinniger Haufen, was vermutlich an der dort ganzjährigen Sonne und den milden Temperaturen liege, denn das zersetze die Moral. Bis zu diesem Moment hatte Betty nur mit halbem Ohr zugehört, doch jetzt horchte sie auf. Teamkolleginnen aus so spektakulär klingenden Orten wie Santa Monica oder Santa Barbara kennenzulernen – das wäre doch großartig. Energisch klappte sie ihren Reisekoffer zu und trat in den Hotelkorridor. Mit etwas Glück würde sie sich ihre Kabine auf derSSPresident Roosevelt mit einigen dieser »fragwürdigen« Mädchen aus Kalifornien teilen.

Wenige Minuten später saß Betty Robinson mit ihrer Mutter auf der Rückbank eines Taxis, das sie zum Pier 86 bringen sollte. Schon seit einer Woche herrschte in New York eine drückende Hitze, und Betty fächelte sich Luft zu, während ihre Mutter mit dem Taxifahrer über die beste Route stritt. Dichter Verkehr verstopfte die Straßen, und gewitzte Zeitungsjungen flitzten zwischen den stehenden Autos umher und boten die neuesten Ausgaben an. Der Taxifahrer kaufte ein Exemplar und legte es aufs Lenkrad, um die Schlagzeilen zu lesen.

»Sind Sie sicher, dass Sie den schnellsten Weg gewählt haben?«, fragte Mrs. Robinson mit zweifelndem Unterton.

»Gäbe es einen schnelleren, würden wir den nehmen, Ma’am. Beten Sie lieber zur Heiligen Mutter Gottes, dass mein Motor nicht überhitzt.« Er bekreuzigte sich.

Wie aufs Stichwort begann das Fahrzeug in diesem Moment zu röcheln, und Bettys Mutter seufzte.

»Beten Sie, so viel Sie wollen, aber meine Tochter darf auf keinen Fall zu spät kommen. Sie gehört zu den Leichtathletinnen, die heute Mittag mit dem Schiff zu den Olympischen Spielen nach Amsterdam starten.«

»Tatsächlich?« Er wandte sich um und musterte Betty eingehend.

»Richten Sie Ihre Augen bitte auf die Straße, Sir«, mahnte ihre Mutter.

»Aber wir fahren doch gar nicht.«

Mrs. Robinson verschränkte die Arme. »Das merke ich.«

»Mir war nicht bekannt, dass bei den Spielen jetzt auch Frauen an Leichtathletikwettkämpfen teilnehmen.«

»Es ist das erste Mal, dass Frauen in Laufdisziplinen antreten dürfen«, erklärte Mrs. Robinson, und obwohl sie sich immer noch über den Mann ärgerte, war der Stolz in ihrer Stimme nicht zu überhören. Betty setzte sich aufrecht hin.

»Laufen scheint mir aber nicht besonders geeignet für eine junge Frau. Machen Sie sich keine Sorgen, dass Ihre Tochter zu maskulin wird?«, fragte der Fahrer und kniff unter seiner Hutkrempe die Augen zusammen. »Ich würde ja eher zum Rudern raten. Strafft das nicht die … äh, den Brustkorb?« Er grinste.

»Was für eine unsinnige Bemerkung! Außerdem läuft meine Tochter keinen Marathon. Sie ist Sprinterin.«

»Wenn Sie meinen.« Der Fahrer knackte mit den Fingerknöcheln. Offenkundig machte es ihm Spaß, ihre Mutter aufzuziehen, und Betty drehte schnell den Kopf, um ihr belustigtes Gesicht zu verbergen. Auf dem Gehweg flimmerte die Luft.

»Da wären wir«, sagte der Fahrer nach einiger Zeit und reihte sein Taxi in die Warteschlange am Pier ein. Aus der Ferne erklang Musik. Vor dem Aussteigen blieb Betty einen Moment lang auf dem Trittbrett stehen und spähte über die Köpfe der Passanten zurSSPresident Roosevelt hinüber.

Rot-weiß-blaue Fähnchen schmückten die Decks, und die blank polierte Messingreling blitzte in der Sonne. Im Vergleich zu den majestätischen Dampfern an den benachbarten Piers wirkte das Schiff allerdings klein und schien eher für Hafenrundfahrten geeignet als für die verantwortungsvolle Aufgabe, das olympische Team der Vereinigten Staaten über den Atlantik zu bringen.

Instinktiv griff Betty nach ihrem Teilnehmerausweis, der ihr an einem Band um den Hals hing, und befühlte die tröstlich feste Pappe.Das alles war kein Traum. Erst vor wenigen Monaten hatte sie der Schultrainer des Leichtathletikteams der Jungen zum Zug sprinten sehen, und nun war sie in New York City und als eine der ersten Leichtathletinnen auf dem Weg zu den Olympischen Sommerspielen in Amsterdam. Ihr Körper kribbelte vor Aufregung.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag erlebe, an dem Frauen bei einer Olympiade um die Wette laufen«, murmelte der Fahrer kopfschüttelnd, während er Bettys Gepäck aus dem Kofferraum holte. Dann sah er sich suchend um. »Und wo ist ein Träger, der die Sachen zum Schiff bringt?«

Betty griff selbst nach ihrem Koffer, doch der Mann trat ihr in den Weg. »Nein, Miss, dafür sind Sie viel zu zierlich. Lassen Sie uns einen Träger suchen.«

»Ich kann das selbst.«

»Ganz schön störrisch, wie?« Er zuckte die Achseln und stellte ihr die Tasche vor die Füße.

Betty lehnte sich in den Fond des Fahrzeugs. »Jetzt ist es so weit, Mutter. Leb wohl. Ich werde euch schreiben, versprochen.« Sie umarmten einander. Als Betty sich wieder aufrichtete, spürte sie, wie ihr der dünne Blusenstoff am feuchten Rücken klebte.

»Mach uns stolz, mein Schatz.«

»Ganz bestimmt. Ihr müsst nur in der Zeitung nach mir Ausschau halten.«

Die Mutter schüttelte vor so viel Übermut zwar tadelnd den Kopf, aber Betty nahm auch ihr nachsichtiges Schmunzeln wahr. Obwohl sie bisher stets der Ansicht gewesen war, der Name einer Frau solle nur bei Heirat und Tod in der Zeitung erscheinen, schien Mrs. Robinson ihre Meinung seit Bettys sportlichen Erfolgen allmählich zu ändern.

Betty blickte wieder Richtung Hafen, hob Koffer und Tasche an und verkniff sich ein Stöhnen. Die Sachen waren schwerer als erwartet, aber sie würde auf keinen Fall um Hilfe bitten. Mit zusammengebissenen Zähnen ging sie um den Fahrer herum.

»Viel Glück, Miss«, sagte der.

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich glaube, davon brauchen Sie mehr als ich. Immerhin sind Sie derjenige, der jetzt mit meiner Mutter weiterfahren muss.«

°

Die Menschenmenge riss Betty mit sich Richtung Gangway, wo sie ihren Koffer einem Steward übergab. Mit einem letzten Blick über die Schulter dachte sie an alles, was sie nun zurückließ: ihr Land, ihre Familie, all das, was ihr vertraut war. Doch der Moment währte nur kurz, denn ebenso fieberte sie dem neuen Abenteuer entgegen.

Am Ende der Gangway stand General MacArthur und begrüßte jedes Mitglied des Olympischen Kaders. Beim gestrigen Empfang der Athleten und ihrer Familien im Ballsaal des Hotels war er Betty steif und unnahbar vorgekommen, aber nun lächelte er freundlich. »Miss Robinson, das schnellste Mädchen im Mittleren Westen. Bereit, Ihrem Land Ehre zu machen?«

Seine Wandlung vom furchtlosen General zu einer Art wohlwollendem Onkel sorgte dafür, dass sie sich unwohl fühlte, so wie einem allzu intime Einblicke unangenehm waren – etwa, jemanden auf der Toilette zu hören oder die dunkle Brustbehaarung eines Mannes durch den Hemdstoff schimmern zu sehen.

Sie zwang sich zu lächeln.

»Schön, schön. Ihre Betreuerin wartet dort hinten und wird Sie zu Ihrer Kabine bringen. Sie sind mit zwei Mädchen ganz aus Ihrer Nähe untergebracht, aus Chicago und St. Louis. Sie werden sich also wie zu Hause fühlen.«

St. Louis? Und was war mit den Kalifornierinnen? Betty verbarg ihre Enttäuschung, indem sie sich artig bedankte und weiterging. Staunend beobachtete sie den Tumult aus Matrosen und Lastenträgern, die durch die Menge manövrierten und Kommandos brüllten, und fröhlich lachenden Athleten, die sich an der Reling drängten, den Menschen im Hafen zuwinkten und ihnen Abschiedsworte zuriefen. Noch nie im Leben hatte sie solch ein Spektakel erlebt. ...