: Andrej Gelassimow
: RussenRap Roman
: Aufbau Verlag
: 9783841228406
: 1
: CHF 15.40
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 368
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein wahres Rap-Märchen aus Russland. Tolja und seine Freunde wollen rappen und damit richtig viel Geld machen. So wie ihre Vorbilder in den USA. Denn auch ihr eigener Alltag in Rostow am Don ist Mitte der 1990er Jahre von Armut, Drogen und Kriminalität geprägt. Bei Toljas erstem großen Konzert ist unter seinen Fans auch Lena, ein Mädchen, das anders ist als alle anderen. Doch als sie ihn aufspürt und ihm helfen will, von den Drogen wegzukommen, ist Tolja erst gar nicht begeistert. Dennoch ist es der Beginn einer ganz großen Liebe. Und auch seine musikalische Karriere nimmt weiter Fahrt auf. Andrej Gelassimow erzählt mit literarischem Furor und unvergleichlicher Authentizität vom märchenhaften Aufstieg eines Mannes, der Russlands wohl einflussreichster Superstar Basta sein könnte. Und von der Sehnsucht nach dem Flow - in der Musik und im Leben. Andrej Gelassimow erzählt mit literarischem Furor vom märchenhaften Aufstieg eines Mannes, der Russlands wohl einflussreichster Rap-Superstar Basta sein könnte, und setzt dabei einer ganzen Generation russischer Rapper ein Denkmal. 'Dies ist das beste ernstzunehmende Buch über verrückte Menschen.' FRÉDÉRIC BEIGBEDER

Andrej Gelassimow, geboren 1965 in Irkutsk. Philologiestudium in Jakutsk, promovierter Philologe, später Besuch einer Regieklasse am Moskauer Theaterinstitut. Einer der wichtigsten russischen Erzähler seiner Generation. Seine Romane wurden verfilmt und preisgekrönt. 2011 erschien sein Roman 'Durst' auch in Deutschland.

November 2016, Dortmund


Beim Soundcheck rückte die Polizei mit einem großen Hund an. Mitja wollte noch protestieren, aber die Deutschen hörten gar nicht auf ihn.

Der Schäferhund beschnüffelte unsere Boxen und Cases. Ljoscha Jay kicherte nervös und schlug vor, ihm den blanken Arsch zu zeigen. Sascha drosch auf seine Drums. Anja sang sich ein. Die Deutschen warteten darauf, dass das Vieh etwas fand.

Der Schäferhund gefiel mir natürlich. Als Kind hatte ich genau so einen gewollt. Aber jetzt platzte mir echt der Kragen.

»Habt ihr den Arsch auf?«, fragte ich den Boss dieses herrlichen Hundes ganz unschuldig. »Wir haben in zwei Stunden Konzert. Das Abschlusskonzert der Tournee.«

Der schmächtige Jay, allzeit bereit, für die Freiheit zu sterben, brüllte fies-fröhlich von hinter dem Pult. In den Sechzigern hätte er garantiert mit Che Guevara und seinen Jungs Bolivien aufgemischt, aber er war eben zu spät geboren und kämpfte jetzt allein gegen die weltweite Tyrannei.

»Wortwörtlich übersetzen?«, fragte das Mädel, das Mitja unter den Russen hier aufgetan hatte, ihn höflich.

»Nein«, antwortete er. »Der Spur nach.«

Gerufen hatte die Polizei, wie sich herausstellte, die Eigentümerin des Saales.

»Wie jetzt? Wieso?«

»Ist ihr gutes Recht«, erklärte der Polizist über die Dolmetscherin. »Der Laden gehört ihr.«

»Mitja«, sagte ich in aller Deutlichkeit. »Haben wir sie irgendwie geärgert? Oder hat sie die Musiker mit Stoff gesehen?«

»Wenn sie was gesehen hätte«, antwortete er sinnig, »hätte der Hund schon was gefunden.«

Dem konnte man kaum widersprechen. Der Riese saß ruhig mitten auf der Bühne und grinste über sein ganzes Schäferhundgebiss.

»Dann auf zu der guten Frau«, sagte ich. »Soll sie das Theater hier mal erklären.«

Die gute Frau saß in einem Büro, das eher etwas von einer Garage hatte. Jedenfalls stand neben ihrem Tisch ein schickes Superbike. Ein weiteres Motorrad war hinter ihr geparkt. Sah aus, als wäre sie mit ihnen direkt hier reingefahren. Die Hälfte der Wand zu ihrer Rechten nahm ein extrabreites Garagentor ein. Überall hingen Fotos von Boxern undMMA-Kämpfern mit zerkloppten Visagen. Auch vor ihr auf dem Tisch stand ein Foto. Darauf strahlte ein vielleicht achtzehnjähriger Bursche, den Championgürtel über den Kopf gestemmt.

»Mitja, treten wir in einem Boxclub auf, oder was?«

Er erklärte hastig: »Weißt du, sie ist selber auf uns zugekommen. Wir haben Säle gesichtet, ein paar Eigentümer angerufen, aber dann hat sie ihren angeboten.«

»Und?«

»Der Preis war absolut oberhammer.«

»Mal langsam«, sagte ich. »Die gute Frau will, dass ich bei ihr rappe, gibt uns fetten Nachlass bei der Miete und holt dann selber die Bullen?«

»Tolja, ich versteh schon, das hakt ganz gewaltig. Fragen wir sie doch einfach.«

Ich sah mir die Frau an, die mit verschränkten Armen geduldig abwartete, dass wir fertig wurden und in ihrer Sprache mit ihr redeten.

»Also gut«, sagte ich.

»Frau Steinbach«, fing Mitja mit Blick zur Dolmetscherin an. »Offenbar liegt hier ein Missverständnis vor …«

»Schick sie raus«, sagte die Deutsche, die mich durch ihre riesige dunkle Brille betrachtete, plötzlich auf Russisch, bevor die Dolmetscherin auch nur den Mund aufbekam.

Mitja und ich wechselten einen Blick, ich nickte. Als sie draußen waren, steckte sich die russische Deutsche hinter dem Tisch eine Zigarette an und fixierte mich wortlos weiter.

»Und?«, fragte ich nach einigen Sekunden Schweigen.

»Was ›und‹?«

»Vielleicht erklären Sie mal Ihre Blackouts.«

Sie blies grinsend den Rauch aus.

»Was hab ich denn zu erklären? Du bist doch zu mir gekommen. Du bist dran.«

Ich schnaubte bloß und ließ mich in den breiten Sessel ihr gegenüber fallen.

»Also gut. Springen Sie mit Ihren Musikern immer so um?«

»Wie?«

»Polizeikontrolle vor dem Konzert.«

Sie dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf.

»Nein, nur mit dir.«

»So? Und warum, wenn ich fragen darf?«

Sie zuckte die Achseln.

»Weil du der erste Musiker bist, der hier auftritt. Ich hab eigentlich einen Boxclub, falls du das noch nicht bemerkt hast.«

Sie zeigte auf die Fotos an der Wand.

»Jetzt hören Sie mal zu«, fing ich an. »Mitja hat mir grade gesagt, Sie wären selber …«

»Ich hab gehört, was er gesagt hat«, fiel sie mir ins Wort. »Tolja, ich bin nicht taub. Aber du bist anscheinend blind.«

Sie setzte die dunkle Brille ab, die ihr halbes Gesicht verdeckt hatte, und legte den Kopf leicht schief.

Da sah mich jemand aus einer so fernen und so unmöglichen Vergangenheit an, dass wohl nur ein komplett zugedröhnter Junkie nicht irritiert gewesen wäre.

»Bist du clean?«, fragte sie. »Die Polizei hab ich nur deinetwegen gerufen. Ärger kann ich hier keinen gebrauchen.«

»Maika …«, brachte ich heraus. »Du hier? Wie kommst du hierher?«

Damals in Rostow, vor über zwanzig Jahren, ist wegen Maika der Karren richtig vor den Baum gekracht. Jede Erinnerung an sie hatte ich über die Jahre ausgemerzt. Jetzt kam alles hoch.

Das alte, abgelebte Herz muckte wieder auf.

Deshalb verging das Konzert wie im Nebel. Wir leisteten ganze Arbeit, alles lief nach Plan, aber ich hatte nicht nur die wippenden Arme all der Leute in der Fanzone vor Augen.

Ich sah wieder Maikas schwachsinnigen Bruder Djoma vor mir, den mit fremdem Blut besudelten Wadik, die Rostower Bande der Neunziger, die Piranhas im Stadtbad und meine Mutter mit der Spritze in der Hand.

Dazwischen kamen ständig Bilder der neuen deutschen Maika, mit Motorrädern, Boxern und dem Foto ihres Sohnes auf dem Schreibtisch. Sie musste sehr stolz sein auf ihn. Das war mir klar. Maikas Sohn: ein Champion. Das war es, was sie immer vom Leben verlangt hatte: Championship.

Und wir waren Loser für sie.

Aber die Bullen hier hatte sie natürlich nur gerufen, um sich zu rächen. Was ich ihr damals angetan hatte, war unverzeihlich. Niemand würde das verzeihen.

»Fuck! Halt ihn!«, brüllte Michael links aus den Kulissen.

Da war ich zurück in der Realität. Ein dicker Deutscher im weißen T-Shirt lief über die Bühne auf mich zu, Michael schnitt ihm den Weg ab. Der Deutsche, mit einem seligen Grinsen, wähnte sich kurz vor dem Touchdown.

Arschlecken! Unserem Michael entkommt keiner. Der hat schon ganz andere abgefangen.

Wumm! Ein Zusammenstoß wie von zwei richtigen Rugbyspielern. Der Saal tobte.

Könnte man auch extra loslassen ab und zu, so eine Wildsau. Die Leute mögen es, wenn’s kracht. Und Michael kann da keiner was. Wie viele hat er abgeräumt, bis er sitzen musste wegen Totschlag.

»Sorry, Tolja, kommt nicht wieder vor!«

Kein Ding. Weiter im Text. Ich war nicht mal aus dem Takt geraten. Wenigstens musste ich nicht mehr an Maika und an Rostow denken.

Die Fanzone hatte kapiert, dass das der letzte Track war, sie skandierte: »Boo-ster! Boo-ster! Boo-ster!«

Also Abgang. Die Startrakete hatte ihren Dienst getan.

Auf dem Weg von der Bühne verfranzten wir uns noch. Mitja verpasste einen Abzweig, und wir landeten in einer Sackgasse mit riesigen Kisten.

»Mitja! Ein schöner Sussanin bist du, echt!«

Draußen war es kühl, fast schon Dezember. Die frische Luft in der Tür wirkte nach der Schwüle wie ein Schluck Wodka.

»Schaffen wir das noch?«

»Aber sicher, Tolja. Ich hab dem Fahrer gesagt, er soll zweihundert fahren.«

»Und die Blitzer?«

»Die Strafen zahlen wir, kein Ding. Abflug ist in...