1. KAPITEL
West Country, im Jahre 1068
Grundgütiger! Erschrocken riss Eadita die Augen auf. Von ihrem Platz auf dem Ast einer Eiche aus sah sie, wie sich ein Trupp Krieger auf Pferden näherte. Das Geräusch der Hufe wurde durch den morastigen Fahrweg gedämpft. Mit schweißnassen Händen packte sie die trockene Borke, um sich zu ihrem Bruder umzudrehen. Thurstan lümmelte faul auf dem nächsten Ast.
„Pass auf, Schwester“, warnte er leise. „Sonst fällst du noch herunter!“
„Thurstan, wir müssen hier weg, oder sie werden uns entdecken! Bitte!“ Sie klang beinahe panisch. „Das sind Normannen! Sie werden uns töten! Es sind viel zu wenige, um zu Onkel Gronwig zu gehören. Außerdem sind keine Sachsen dabei.“
„Keine Angst, sie werden nicht zu uns hochschauen.“ Thurstans beherrschte Stimme verriet seinen tiefen Hass auf die Männer, die sich ihnen langsam näherten. Eadita musterte ihren Bruder. Die schwarzen Haare waren vom Wind zerzaust, die glatten Gesichtszüge von der Kälte gerötet. Mein Bruder, dachte sie stolz und voll geschwisterlicher Liebe.
„Wenn wir doch nur mehr Männer hätten! Dann würde ich jeden Einzelnen von ihnen ganz langsam töten, für das, was sie unserem Vater angetan haben. Und unserem Land.“ Thurstan schlug mit der Faust gegen die Baumrinde.
„Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür, Thurstan. Und jetzt sei still.“ Eadita hoffte, dass ihr ruhiger Tonfall ihn besänftigte, damit er sich mit seinem hitzigen Gemüt nicht selbst in Gefahr brachte. Dabei hätte ihr Vater ihr das Fell über die Ohren gezogen, wenn er gewusst hätte, was sie jetzt vorhatte.
Die stapfenden Pferdeschritte wurden lauter, die Kettenhemden der Normannen klirrten und die Ledersättel knarzten. Thurstan hatte ihr beigebracht, ihren Ohren zu vertrauen, da man im Zwielicht des Waldes eine Gefahr oft nicht schnell genug erkennen konnte. Hinter den nackten Stämmen der Eichen und Buchen überschritt die Wintersonne ihren Zenit. Selbst zur Mittagsstunde war es so kalt, dass die eisige Luft sich wie Nadelstiche in ihre Haut fraß. Eadita zitterte. Sie wollte nicht hier sein. Sie wollte zu Hause sein, in der Großen Halle, an ihrem Lieblingsplatz in der Küche neben dem knisternden Feuer, umgeben von Lichtern, Lärmen und Lachen. Stattdessen hockte sie hier, mehr als drei Meilen vom Wohnturm des Rittergutes Thunorslege entfernt auf einem Baum, zusammen mit ihrem Bruder, der als Vogelfreier im Wald lebte. Und wenn sie nicht sehr gut achtgaben, liefen sie Gefahr, von einem Trupp normannischer Krieger angegriffen zu werden.
„Thurstan, wir brauchen einen Plan! Jetzt!“, flüsterte sie drängend.
„Es sind nicht besonders viele, und sie haben offensichtlich Münzen und Juwelen dabei … sieh dir nur diesen großen Karren an!“ Seine Augen blitzten auf, aber er machte doch gewiss nur Witze, oder?
„Hast du den Verstand verloren? Wir sind nur zu zweit, und wir haben keine Ahnung, wie wir …“
„Du und deine Pläne, Schwester. Ich habe dir doch schon immer gesagt, Überraschung ist die beste Angriffsstrategie. Aber vielleicht hast du recht, ich werde nicht …“ Der zunehmende Wind riss seine letzten Worte mit sich. Doch als sie ihn ansah, lächelte er und winkte.Bei allen Heiligen! Er wollte die Normannen angreifen! Als sie sah, wie groß die Männer waren, die gerade auf der anderen Seite der Lichtung unter den Bäumen hervorkamen, schluckte sie nervös. Beim Anblick der riesigen Schlachtrösser blieb ihr fast das Herz stehen. Bunte Bänder flatterten an den Langspeeren, die ovalen Schilde trugen waren auffällig mit Rot, Blau und Gold verziert, die Kettenhemden und Helme schimmerten matt im Sonnenlicht. Ihr Magen rebellierte. Gewiss w