Irving Kirsch
Was ich in diesem Moment, als ich mich am Schreibtisch auf den neuesten Stand der Forschung bringen will, noch nicht weiß: Auch Irving Kirsch ist prominent – zumindest in Fachkreisen. Bejubelt von den einen, bekämpft von den anderen. Kirsch hat mit der Arbeit, die ich gerade lese, im Jahr2008 das Vertrauen in die Wirksamkeit von Antidepressiva erschüttert und in denUSA eine große Debatte ausgelöst.
Kirsch hat über Jahre die Studien ausgewertet, mit denen sich Pharmafirmen um die Zulassung für ihre Antidepressiva beworben haben. Das Besondere war: Er schaute sich nicht nur die Studien an, die die Pharmafirmen freiwillig veröffentlichten, sondern auch jene, die sie geheim hielten – unter Berufung auf den Freedom of Information Act, ein amerikanisches Recht auf Transparenz, hatte er sich Einblick verschafft. Am Ende verglich er die Patienten, die ein Medikament erhalten hatten, mit denen, die ein Placebo bekommen hatten. Sein Ergebnis: Vielen Patienten ging es nach der Behandlung besser. Allerdings war es in den meisten Fällen egal, ob sie ein echtes Mittel oder eine Zuckertablette geschluckt hatten. Nur bei einer kleinen Gruppe sehr schwer Betroffener übertraf die Wirkung der Medikamente die der Placebos. Über die vielen anderen aber sagt Kirsch seitdem: Es sind nicht die Wirkstoffe in den Antidepressiva, die helfen. Der Erfolg der Pillen ist ein Scheinerfolg.[6]
Fast immer, wenn seither kritisch über Antidepressiva berichtet wird, fällt dabei Kirschs Name. Die Studie war nicht nur deswegen so beeindruckend, weil sie dem überkommenen Wissen widersprochen hatte, dass Antidepressiva ein sehr wirksames Medikament seien. Kirsch traf diese Aussage auch auf Grundlage von bis dahin ungekannten Datenmassen. Erst in seiner Gesamtschau zeigte sich, was vorher verborgen war, weil regelmäßig nur die Erfolgsmeldungen zu Antidepressiva veröffentlicht wurden. Nach einer Auswertung aus dem Jahr2008 waren von den Studien, die ein positives Ergebnis für Antidepressiva hervorbrachten,91 Prozent veröffentlicht worden. Von den Studien, in denen die Medikamente nicht überzeugen konnten, wurden dagegen nicht einmal10 Prozent publiziert. Ein Drittel dieser publizierten Studien waren zudem so formuliert, dass es klang, als hätten die Medikamente sich als wirksam erwiesen, obwohl dies nicht der Fall war.[7] Dass es jetzt durch Kirsch eine Studie gab, die das gesamte den Zulassungsbehörden vorliegende Datenmaterial mittels einer sogenannten Meta-Analyse auswertete, machte seine Arbeit so bedeutsam. Und demnach konnte man mit Zuckerpillen fast genauso viel Licht in das Leben eines Menschen bringen wie mit Antidepressiva.
Wie so viele meiner Kolleginnen und Kollegen verlasse ich mich auf das, was ich in Lehrbüchern gelesen und in Vorlesungen gehört habe. Wieso, frage ich mich an meinem Schreibtisch, weiß niemand von dieser Arbeit, der zu diesem Zeitpunkt größten, die jemals zum Thema Antidepressiva durchgeführt worden ist? Die sollte doch jeder kennen. Und ich beschließe, dafür in den nächsten Wochen zu sorgen.
Für Psychotherapeuten besteht die Möglichkeit, sich über Fachzeitschriften an ihre Kollegen zu wenden. Also verfasse ich einen Text mit dem Titel »Placebo – Neue Erkenntnisse zur Wirkung von Antidepressiva«, in dem ich darlege, dass in den meisten Fällen die Wirkung von Antidepressiva kaum über die einer Zuckerpille hinausgeht. Prominent darin: Kirschs Studie. Ein Abschnitt lautet: »Depressionen gibt es in drei Formen, leicht, mittelschwer und schwer. DieAmerican Psychiatric Association kennt sogar vier Formen, die sich von den Werten derHamilton Depression Rating Scale (HDRS) ableiten. Ab einem Score größer oder gleich23 benennt sie zusätzlich die ›sehr schwere Depression‹, eine tiefschwarze Form also.« Nur für diese allerschwersten Depressionsformen ist nach Kirschs Studie belegbar, dass Antidepressiva besser als Placebos gegen Depressionen helfen.
Den Text gebe ich an eine Zeitschrift, die in Deutschland nur einem Fachpublikum bekannt ist, aber von vielen Psychotherapeuten gelesen wird. Da ich in dieser Zeitschrift schon mehrfach veröffentlicht habe, gehe ich davon aus, dass man meinen Text wohlwollend beurteilt und bald publizieren wird. Acht Wochen später weiß ich: Dem ist nicht so.
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