Berlin, Restaurant »Iwuschka«, im Jahr1996: Es war einer jener Abende, wie wir sie schon unzählige Male im Kreis der Familie durchlebt hatten. Alle Familienmitglieder und ihre Ehe- oder Lebenspartner saßen zusammen, tranken, aßen, redeten, lachten und lauschten zu vorgerückter Stunde mehr oder weniger aufmerksam der tiefen und schon ein wenig angegriffenen Stimme von Iwuschka. Dieses »russische Vollblutweib« ist noch heute das Herz des damals gleichnamigen Restaurants und war die »Lieblings-Chanteuse« meines Vaters. Egal, wie voll der Laden sein mochte, wie illuster die Gäste, Iwuschka brachte alle zum Verstummen, wenn sie inbrünstig Lieder anstimmte, die von den Weiten der russischen Landschaft erzählten und von der Tiefe der russischen Seele. Irgendwann standen alle auf den Tischen und tanzten, der Raum war erfüllt von purer Lebensfreude.
Diese Abende bei Iwuschka hatten immer etwas Besonderes. Der Familienzusammenhalt, das Zugehörigkeitsgefühl, dieses Wissen um Sicherheit und Geborgenheit im Kreis der Menschen, mit denen man sein ganzes bisheriges Leben verbunden war, all das war hier an diesem Ort immer ganz stark zu spüren. Natürlich wurde auch bei uns gezankt, gestritten, lautstark diskutiert, bis die sprichwörtlichen Fetzen flogen – auch an solchen Abenden. Aber meist löste sich zu später Stunde, nach etwas Wein und Wodka, alles wieder in Wohlgefallen auf.
Und trotzdem schien dieser Abend anders als sonst. Nicht nur der Anlass war besonders, auch die Stimmung unterschied sich von anderen Feierlichkeiten, die wir hier schon gemeinsam begangen hatten. Es war der fünfzigste Hochzeitstag meiner Eltern. Ein feierliches und freudiges Ereignis, zumal meine Eltern eine sehr glückliche, nicht immer nur harmonische, aber trotz mancher Widrigkeiten und enormer Belastungen, vorbildliche Ehe führten. Für meine Mutter war das Leben an der Seite des schillernden »Atze« Brauner, wie die Berliner meinen Vater schnell nannten, sicher nicht immer leicht. Die vielen Premierenfeiern, die vielen Schauspielerinnen, die sich ihm manchmal regelrecht an den Hals schmissen, in der Hoffnung auf eine Rolle in einem seiner Filme. Mir hat sie schon früh mit auf den Weg gegeben, das Wichtigste beim Ausgehen sei, einen Haustürschlüssel und Geld für ein Taxi dabeizuhaben. Wenn es ihr an solchen Abenden im Fokus der Kameras und unter dem beständigen Klicken der Fotoapparate zu viel wurde, stand sie einfach auf und ging. Einen Vorwurf hat sie meinem Vater nie gemacht. Dazu flirtete sie selbst viel zu gern. Wenn ich mich an manchen Abenden über ein Verhalten aufregte, das ich als respektlos meiner Mutter gegenüber empfand, sagte sie nur: »Alicechen, hör auf, dich aufzuregen, das interessiert mich gar nicht. Dein Vater weiß genau, dass er ohne mich nicht lebensfähig ist. Denn während ich immer gebe, wollen andere nur nehmen.«
Nach außen mochte er der Mittelpunkt sein, innerhalb der Familie war sie diejenige, um die alles kreiste, die mit ihrem Charisma und ihrer Lebensfreude alle bezauberte, aber auch mit eiserner Disziplin und Härte vor allem gegen sich selbst den Laden zusammenhielt. Mein Vater wurde geschätzt und respektiert, meine Mutter von allen geliebt. Für meinen Vater war sie – frei nach Kishon – die »beste Ehefrau der Welt«, allerdings ohne jede Ironie. Sie war, wie er einmal sagte, seine »von G’tt bestimmte zweite Hälfte«. Jeden Freitag zu Schabbat brachte er ihr einen Strauß rosa Moosröschen mit, ihre Lieblingsblumen. Im ganzen Haus legte er Zettelchen aus, kleine Liebesbriefe für sein »Kotunjo«, sein »Kätzchen« (eine Brauner’sche Eigenkreation nach dem polnischen Wort »Kotek«). Dass sie schließlich auf »nur«71 gemeinsame Ehejahre zurückblicken konnten, kommentierte er gerne mit einem »leider«. Die Welt würde schließlich schon seit vielen Milliarden Jahren existieren. Das würden sie dann wohl doch nicht mehr schaffen. Sicher gab es Höhen und Tiefen, Meinungsverschiedenheiten, weil mein Vater sehr stur war, meine Mutter sich aber für viel logischer hielt. An der Liebe des anderen haben sie jedoch nie gezweifelt. Als ich meine Mutter einmal fragte, wie sie diesen langen gemeinsamen Weg gemeistert haben, sagte sie: »Wir können alles miteinander teilen und sind absolut ausgefüllt miteinander. Wir sind miteinander verwachsen. Und wir haben nie aufgehört, miteinander zu reden.«
Geredet wurde überhaupt viel in unserer Familie. Später, als meine Geschwister und ich schon längst ausgezogen waren, war das gemeinsame Mittagessen am Sonntag ein fester Termin. Manchmal erzählte mein Vater von einem Drehbuch, von seinen Versuchen, einen Schauspieler für eine Rolle zu gewinnen oder einen Regisseur zu verpflichten. Unvergessen die Geschichte, wie er an die zwanzig Mal mit seinem klapprigen Auto im tiefsten Winter von Berlin nach München schlitterte, um Maria Schell für den Film »Die Ratten« zu gewinnen. »Stellt euch vor, ich habe mich sogar vor ihr auf die Knie geworfen, aber sie wollte mir einfach nicht glauben, dass diese Rolle eine Traumrolle ist! Sie blieb verschlossen wie eine Auster«, erzählte er mit einem verschmitzten Grinsen. Maria Schell, damals der Inbegriff des strahlenden und seelenvollen Mädchens, und dann diese »hässliche, ungeschlachte Person mit einem unehelichen Kind«, auch wenn das Weltliteratur von Gerhart Hauptmann war, das ginge, so fürchtete sie, für das Publikum nicht zusammen. Es wurde ein rauschender Erfolg für »die Schell«, das »Rehlein« wurde für ihre Leistung an der Seite von Curd Jürgens von der Kritik und dem Publikum gefeiert.
Die meisten Gespräche am sonntäglichen Mittagstisch drehten sich aber um Politik und gesellschaftliche Themen und begannen oft mit dem Satz: »Weißt Du noch? Heute vor genau fünfzig Jahren war&