2
Aurelie
Aurelie merkte, dass alle sie ansahen. Isabelle war tot? Das konnte doch gar nicht sein!
»Wie ist sie …? Ist sie …?«, stammelte Aurelie.
»Sie ist in der Schweiz verstorben.«
»In der Schweiz?«, fragte Eike ungläubig.
»Nun, in der Schweiz ist der Umgang mit dem Tod anders als hier.«
»Isabelle hat Sterbehilfe erhalten?«, flüsterte Aurelie.
»Ja, das war ihr Wunsch.«
»Aber …«
»Sie war sehr krank. Sie wollte selbst bestimmen, wann es so weit ist.«
»Na, das passt ja zu ihr«, sagte Eike leise, aber doch vernehmbar.
»Krass!«, kam es von Lotte.
In Aurelies Ohren rauschte es. Isabelle hatte den Freitod gewählt. Sie hatte gar nicht gewusst, wie krank ihre Tante gewesen war. Kein Wunder, schließlich war sie vor fünf Jahren zuletzt am Hintertristerweiher gewesen.
»Und die Beerdigung?«, fragte Laurent.
Pranger sah den Jungen an. »Gibt es nicht. Es gibt ein Urnengrab auf einem Schweizer Friedhof, das man besuchen kann. Sie wollte keinem eine Last sein.«
Eine Last? Isabelle war Aurelies einzige Verwandte gewesen. Ihr einziger Anker in die eigene Vergangenheit, die Aurelie ansonsten verdrängte. Nur in melancholischen Momenten dachte sie an das Meer, an ihren Großvater und die Mutter, die keine gewesen war. Und in solchen Momenten huschte auch Isabelle in ihren Gedanken vorbei, wo sie als Studentin öfter zu Besuch gewesen war. Aurelie war nicht allzu oft melancholisch, das erlaubte sie sich nicht, aber nun schoss ein Pfeil in ihr Herz. Sie hatte Isabelle vernachlässigt. Die Schule, die Kinder, Verpflichtungen, Eikes unstetes Leben mit seinen Recherchereisen, Urlaube – lauter Gründe, nicht an den Weiher zu fahren. Hatte sie etwa geglaubt, dass Isabelle hundert werden würde? Dass sie noch Zeit hätte?
Am liebsten wäre Aurelie jetzt hinausgegangen, weit weg von allen Menschen. Stattdessen saß sie in diesem Raum, umgeben von lauter ausgestopften Tieren, darunter auch ein Rehlein, ein geflecktes Bambi, das in Moos gebettet dalag. Das Moos war zerfleddert, das Rehlein zerschlissen. Wer stopfte denn bitte ein Bambi aus?
Isabelle mit ihrem Gnadenhof für Seniorentiere hätte das sicher missfallen. Früher hatte sie Islandpferde gezüchtet, doch als vor vielen Jahren ihr Mann gestorben war, hatte sie aus der Pferdezucht diesen Gnadenhof gemacht. Soweit Aurelie wusste, schmiss sie den Laden mithilfe einiger Nachbarn, beherbergte gebrechliche Viecher und bewirtschaftete zusätzlich einen Kiosk am Hintertristerweiher, wobei Kiosk etwas klein gegriffen war. Eher ein kleines Gasthaus mit Seeterrasse.
»Sie wollen uns also sagen, dass wir geerbt haben?«, wiederholte Eike. »Diesen Siechentierpark?«
»Herr Brodersen!«, unterbrach ihn Pranger. »Es handelt sich dabei um eine Art Seniorenresidenz für Tiere. Für die Ausgestoßenen, die ja auch noch einen schönen Lebensabend verdient haben.« Er blickte streng in die Runde. »Wie Lolek und Bolek, die eigentlich schon vor vier Jahren beim letzten Ochsenrennen hätten geschlachtet werden sollen.«
»Am Spieß hätten sie auch was hergemacht«, kommentierte Eike ungerührt.
»Papa!«, kam es von Lotte, die Vegetarierin im Übergang zur Veganerin war.
»Und wir erben jetzt die ganze Kohle, die Ferienanlage, zwei Häuser und den öden Gasthof?«, fragte Laurent, der das Pragmatische vom Vater hatte.
»Nun, im Prinzip ja, es ist nur eine klitzekleine Bedingung daran geknüpft«, entgegnete Pranger.
»Bedingung?«, hakte Aurelie nach.
»Nun, Isabelle hat verfügt, dass Sie lediglich ein Jahr lang den Gnadenhof und den Kiosk führen müssen. Also die Tiere versorgen und, wenn nötig, in den Tod begleiten. Wenn Sie sich dann des Erbes als würdig erwiesen haben, gebe ich das Geld frei.«<