: Hugh Aldersey-Williams
: Die Wellen des Lichts Christiaan Huygens und die Erfindung der modernen Naturwissenschaft
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446271708
: 1
: CHF 7.20
:
: Naturwissenschaft
: German
: 496
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Wiederentdeckung eines vergessenen Genies: Wie der Niederländer Christian Huygens die Grundlagen der modernen Naturwissenschaft legte
Das 17. Jahrhundert war das Goldene Zeitalter für die Niederlande. Es zog Künstler und Geschäftsleute ebenso an wie Gelehrte und Naturforscher. Im Zentrum dieser intellektuellen Blüte stand ein Mann, dessen Schaffen sämtliche Zeitgenossen in den Schatten stellte - und der doch in Vergessenheit geraten ist: Christiaan Huygens, Erfinder von Teleskopen und der mechanischen Uhr, Entdecker des Saturnrings, Vater der Wellentheorie des Lichts, Bekannter von Descartes, Newton und Spinoza, Lehrer von Leibniz und Erbe einer in ganz Europa bestens vernetzten Dynastie. Hugh Aldersey-Williams zeichnet ein schillerndes Porträt eines außerordentlichen Mannes und einer bewegten Epoche, ohne die die Welt heute eine andere wäre. Eine packende Geschichte über die vergessenen Wurzeln der modernen Naturwissenschaft.

Hugh Aldersey-Williams, geboren 1959, ist Naturwissenschaftler und Kurator. Er hat Ausstellungen für das Londoner Victoria and Albert Museum und die Wellcome Collection konzipiert. Zudem verfasst er Bücher zu Wissenschafts- und Designthemen. Bei Hanser sind von ihm bisher erschienen: Das wilde Leben der Elemente, Anatomien. Kulturgeschichten vom menschlichen Körper und Flut. Das wilde Leben der Gezeiten. Er lebt in Norfolk.

Einleitung


Klares Licht fällt durch die Bleiglasfenster auf den blank geputzten Fußboden und legt ein schräges Gitternetz über das geometrische Muster der schwarz-weißen Fliesen. An der Fensterfläche bricht es sich, und noch einmal, wenn es seine ursprüngliche Richtung wieder aufnimmt. Es tanzt und windet sich, hüpft und umspielt kleine Schlieren in dem alten Glas. Hier und da wirken kleine Bläschen als improvisierte Linsen und Prismen, die vergrößerte oder verzerrte Lichtpunkte auf den Boden werfen, manchmal gar einen winzigen Regenbogen. Das hellste Lichtmuster zerschneiden die scharfen Schatten der Bleiruten im Fenster. Weil die Sonne schräg am Himmel steht, ist es seitlich verzogen. Aber direkt unter dem Fenster liegt noch eine weitere Lache aus Licht: Ein bläulich verschwommener Schimmer steigt von den Fliesen auf — die Spiegelung des Lichts im Himmel.

Der Raum ist groß und hell; ursprünglich wurden dort Festmahle und musikalische Gesellschaften abgehalten. Er hat Fenster auf drei Seiten und ist doch noch heller, als man erwarten würde. Man fühlt sich fast wie im Freien — was merkwürdig ist, denn über einem liegt nicht Luft, sondern eine schwere Balkendecke. Dann aber merkt man, dass auch diese Decke selbst von Licht geradezu funkelt, von Licht aus noch einer anderen, einer tiefer gelegenen Quelle, das durch dasselbe Fenster nach oben geworfen wird, und zwar vom Wasser im Graben rund um das Haus der Familie Huygens, Hofwijck.

In diesem Anwesen fünf Kilometer südöstlich von Den Haag lebte Christiaan Huygens nach dem Tod seines Vaters, des Dichters und Diplomaten Constantijn, bis zu seinem eigenen Tod nur acht Jahre später, im Jahr1695. Als Constantijn etwa50 Jahre zuvor Hofwijck erbaute, schrieb er, er wolle, dass es aussieht, »als wär es über Nacht wie ein Täubling plötzlich ans Licht gebracht«.1 Und wie es da mitten im ruhigen, spiegelglatten Wasser steht, und das, obwohl heute gleich dahinter die viel zu laute Hochautobahn dröhnt, tut es das noch heute. Hier vollendete Christiaan seine Abhandlungen über die Natur des Lichts und die Gravitation, die seine gewaltigen Beiträge zur Physik zusammenfassten. Hier stellte er im weitläufigen Gelände seine Teleskope auf und fing an, über das Leben auf fremden Planeten zu spekulieren.

Christiaan Huygens war in der zweiten Hälfte des17. Jahrhunderts der größte naturwissenschaftliche Gelehrte Europas, bis zum Aufstieg Isaac Newtons, von dem er vor allem in der anglofonen Welt weitgehend in den Schatten gestellt wurde.*2 Das bleibt ein ungerechtes Urteil der Wissenschaftsgeschichte, denn in einigen wichtigen Punkten übersteigen Huygens’ Leistungen die von Newton. Er war ein Macher genauso wie ein Beobachter und Denker, er mehrte das theoretische wie praktische Wissen in den Bereichen Astronomie, Optik und Mechanik. Als außerordentlicher Mathematiker bewältigte Huygens Probleme in so unterschiedlichen Bereichen wie Geometrie und Wahrscheinlichkeitsrechnung, und als Erster setzte er mathematische Formeln zur Lösung physikalischer Fragestellungen ein — diese Methode ist heute die Grundlage allen naturwissenschaftlichen Arbeitens.200 Jahre vor ihrer allgemeinen Anerkennung legte er eine Wellentheorie des Lichts vor. Als Erster beschrieb er die Zentrifugalkraft. Mithilfe von ihm selbst entworfener und gefertigter Teleskope entdeckte er das Ringsystem des Saturns und seinen größten Mond, den Titan. Er schätzte die Größe des Mars und die Entfernung zu vielen Sternen. Er fand heraus, wie sich genauere Pendeluhren bauen ließen, und setzte damit Galileos Vision in die Wirklichkeit um. Seine Innovationen im Bereich des optischen Instrumentariums und der Zeitmessung sind bis heute in Gebrauch.

Auch auf andere Gebiete erstreckten sich seine Talente: Er war ein guter Zeichner, was ihm nicht nur beim Entwerfen mechanischer und optischer Geräte zugutekam, sondern auch, um der Welt die planetaren Phänomene vor Augen zu führen, die er durch seine Teleskope beobachtete; freilich ging er nicht über Skizzen hinaus, wenn er etwa mit einem Porträt Freundinnen schmeicheln wollte oder kleine Landschaftsansichten seiner Lebenswelt fertigte. Er war ein versierter Musiker und musizierte gemeinsam mit anderen, wo immer er hinkam. Gelegentlich finden sich an den Rändern seiner wissenschaftlichen Notizen ein paar Noten einer Melodie oder eines Liedtexts. Doch auch in die Musik wollte er seine Mathematik einbringen und schlug eine Unterteilung der Oktave in31 Tonstufen vor — ein Vorgriff auf musikalische Innovationen des20. Jahrhunderts.

Von bleibenderer Bedeutung war sein Beitrag zum Aufstieg der naturwissenschaftlichen Institutionen in Europa, und das nicht nur in der Republik der Niederlande, sondern vor allem auch in Frankreich, wo er wesentlich an der Einrichtung der französischen Académie des Sciences beteiligt war. Auch bei der Londoner Royal Society war er ein frühes Mitglied und verkörperte damit das Potenzial der Naturwissenschaften, nationale Grenzen zu überwinden.

Der Welt zeigte er sich freilich nicht immer in diesem Licht. Als Huygens1671 aus Paris nach Den Haag zurückkehrte, ließ er sich von Caspar Netscher porträtieren, der bereits mehrere andere Familienmitglieder gemalt hatte. Netschers kleines Ölgemälde zeigt die Meisterschaft des Künstlers in der Darstellung feiner Stoffe. Huygens blickt mit weit geöffneten Augen aus einem Meer von Seide und Spitze. Er steht am Höhepunkt seines Einflusses, und doch hat er immer noch etwas von dem hübschen Kind, das er einst war. Und falls wir nach irgendeinem Hinweis auf seine Gelehrsamkeit suchen — etwa einem Tisch mit wissenschaftlichen Gerätschaften und ein paar hingeworfenen Blättern voller Berechnungen —, dann müssen wir danach anderswo Ausschau halten. Hier sehen wir allein einen Mann der Mode und des extravaganten Geschmacks.

Und doch war er gleichzeitig auch der Prototyp des modernen Gelehrten. Zwar war er auf vielen Gebieten tätig und sprang opportunistisch zwischen ihnen hin und her, statt sich an das zu halten, was wir heute als stringentes Forschungsprogramm bezeichnen würden; dennoch betrieb er seine Untersuchungen stets mit Sorgfalt und Präzision, selbst wenn er, wie viele seiner Zeitgenossen, seine Erkenntnisse nicht immer umgehend publizierte. Sein Rückgriff auf die Mathematik sowie sein Bewusstsein für die Bedeutung der Kriterien Reproduzierbarkeit, Verifizierbarkeit und Falsifizierbarkeit — nach diesem Verständnis müssen Experimente wiederholbar sein, damit sich ihre Richtigkeit beweisen lässt, und Versuchsergebnisse, die eine Hypothese nicht stützen, zum Verwerfen der Hypothese führen — zeigen, wie ernsthaft er seine Geschäfte betrieb. Zu seinen Themen wählte er sorgfältig die Gebiete, auf denen sich realistischerweise ein Durchbruch erzielen ließ. Nie driftete er in den Bereich des Aberglaubens ab, was ihn von einigen seiner Zeitgenossen deutlich abhebt. Er war derart auf neue Erkenntnisse aus, dass er sich bei seinem ersten London-Besuch1661 die Gelegenheit entgehen ließ, der Krönung von König KarlII. beizuwohnen, und lieber den interessanteren Merkurdurchgang beobachtete.

Die Vervollkommnung seiner vielfältigen Begabung verdankte Huygens mit Sicherheit seinem Vater Constantijn, der ihn von klein auf vergötterte und später rückhaltlos bewunderte; Descartes und anderen illustren Besuchern seines Hauses stellte er ihn als »mein Archimedes« vor. Constantijn, der sehr alt wurde, übte auf Christiaan fast sein gesamtes Leben lang einen strengen moralischen und intellektuellen Einfluss aus — und als er schließlich im Alter von90 Jahren verstarb, ließ der damals58 Jahre alte Christiaan sich verdrossen im Gewand eines Waisen malen.

Der Dichter, Komponist, Diplomat, Architekt und Künstler Constantijn Huygens war in keinerlei Hinsicht weniger bemerkenswert als sein Sohn, weshalb auch er in diesem Buch ausführlich gewürdigt wird.1596 geboren, diente er als Sekretär bei mehrerenStadhouders, den Statthaltern einzelner Provinzen in der Republik der Niederlande. Constantijn war, so nannten es die Niederländer, ein...