Spiegel unserer Gesellschaft und Seele
Die Macht des Mysteriums Schlaf
Meine Recherche beginnt – wer hätte das gedacht? – mit einem Bett, einem museumsreifen Stück. Präsentiert wird es mir von einem Mann, der über die Geschichte des Schlafs und dessen Einfluss auf unser Leben und Denken so viel weiß wie nur wenige hierzulande: Philipp Osten, Professor am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) in Hamburg. Osten zählt nicht zum Heer der Ärzte in weißen Kitteln; er trägt dunkle Jeans, ein blau-weiß gestreiftes Hemd mit offenem Kragen und ein dunkles Jackett. Er arbeitet auch nicht im vorderen Teil des riesigen Geländes, wo die Klinik vor Modernität nur so strotzt und übrigens auch das große Schlaflabor untergebracht ist. Zu den Halbgöttern in Weiß und deren heutigen Möglichkeiten, Schlafgestörten zu helfen, brechen wir mit dem nächsten Kapitel auf.
Das Institut von Philipp Osten liegt im Nordteil der Klinik, wo die alten Bauten stehen. Das »Gebäude N30«, abseits der wichtigen Wege für Patienten und Personal, stammt aus der Anfangszeit des Klinikums, als es noch ein Krankenhaus war. Vor rund 100 Jahren, erklärt eine Tafel, waren hier die »Theoretischen Institute« untergebracht, etwa die Pathologie. Neben den breiten Portalen, die den einstigen Status erahnen lassen, künden große goldene Lettern auf rotem Backstein vom heutigen Verwendungszweck: »Medizinhistorisches Museum Hamburg«. Und Professor Osten ist dessen Direktor.
In seinem Arbeitszimmer im ersten Stock, einem großen Raum mit hohen, vollgestopften Bücherregalen, steht der Geschichtswissenschaftler neben einem alten Kinderbett. Es ist ein eher schlichtes Stück. Das Furnier dürfte Eiche sein, vermutet Osten, gebaut wurde es wohl um 1800. Das Besondere sind für den Museumsdirektor die reich verzierten Darstellungen aus weißem Gips: Am Fußende entzünden zwei Jungen, offensichtlich Zwillinge, ein Feuer; am Kopfende sind die beiden noch ein weiteres Mal zu sehen: Nun liegt der eine Bruder mit geschlossenen Augen auf dem Boden, der andere, leicht über ihn gebeugt, behütet seinen Schlaf.
Das Bett ist das erste Exponat einer Ausstellung zum Thema Schlaf, mit deren Planung Osten Ende 2021 beginnen will und die ihm ganz besonders am Herzen liegt. Obgleich sich sein Haus der ganzen Vielfalt der Medizingeschichte widmet – soeben hatte die Ausstellung »Lebenszeichen. Fotopostkarten aus den Lazaretten des Ersten Weltkriegs« ihre Finissage –, ist die gesellschaftliche Wirkmacht des Schlafs eines seiner Spezialgebiete.Das Tor zur Seele lautet der Titel seines in Fachkreisen gelobten Werks, das irgendwann mal zu den Klassikern der Schlafliteratur zählen könnte. Für den Direktor stellen die beiden Jungs in den Verzierungen nicht irgendwelche Buben dar: »Gerade im Kontext der damaligen Zeit«, erklärt Osten, »dürften die Menschen in den Zwillingen die Kinder der Nyx, der griechischen Göttin des Schlafs, gesehen haben.« Die göttlichen Kinder heißen Hypnos und Thanatos, übersetzt: Schlaf und Tod. »Diese Vignetten«, begeistert sich der Professor, »erzählen viele Geschichten, vor allem über das Bild, das die Menschen in unserem Kulturkreis vor 200 Jahren vom Schlaf hatten – und viele dieser Vorstellungen existieren noch heute.«
Bevor der Professor erklärt, warum griechische Götter damals deutsche Bauernmöbel zierten, setzt er einen Tee auf, denn nun, sagt er, müsse er etwas weiter ausholen.
Ich werfe ein, dass in den Büchern, die ich gelesen habe, für manche Autoren die Geschichte des Schlafs mit den alten Ägyptern beginnt. Am Nil sei ein Gott namens Bes als Beschützer in der Nacht verehrt worden. Da er die Schlafenden vor wildem Getier, vor allem Schlangen, schützen sollte, sei er mitunter als Schlangenfresser dargestellt worden. Und sogar ein »Traumbuch« sollen sie am Nil schon geschrieben haben.
Osten sagt, dass er das spannend findet, und lächelt höflich. Ja, manche ließen die Geschichte des Schlafs auch noch viel früher beginnen, mitunter sogar schon beim Neandertaler. Aber, fragt er eher rhetorisch, »was wissen wir wirklich über so weit zurückliegende Zeiten?«. Er zuckt mit den Schultern und meint, dass er es eher mit Karl Marx halte.
Der deutsche Philosoph und Kapitalismuskritiker hatte Mitte des 19. Jahrhunderts