Kapitel2
Ich lausche der leisen Ballade meines Magens, die mit der Zeit lauter und immer hektischer wird. Die Gier nach einer Stärkung ist nicht zu überhören. Mein Körper ist schwach und mein Hunger umso stärker. Den Menschen scheint ihr Geld zu kostbar zu sein, um es in den Pappbecher einer nicht mehr existierenden Tankstelle zu werfen. Sie laufen den Blick in die Ferne gerichtet an mir vorbei. Ich setze mich ein wenig auf, blicke ihnen direkt in ihre Gesichter. Aber sie sehen mich nicht. Ich bin unsichtbar, und irgendetwas sagt mir, dass ich diesen Winter allein nicht überstehen werde.
Wahrscheinlich war es eine blöde Idee, an diesen Ort zurückzukehren. Jeder Zentimeter der Nische erinnert mich an meine Familie. Jeder Zentimeter erinnert mich an Lucas.
»Haben Sie ein wenig Geld für mich übrig?«, lautet meine Frage an einen klein gebauten Mann, dessen Körper von einem langen Mantel eingehüllt wird.Was ich bloß für diesen Mantel tun würde …
»Hätten Sie bitte etwas Restgeld für mich übrig!«, korrigiert er mich, bevor er an seinem dampfenden Becher schlürft und zu mir herabschaut. Sein Kinn verdreifacht sich, während die großen von der Kälte geröteten Ohren von seinem runden Kopf abstehen.
»Vergessen Sie’s«, murmle ich in meinen Schal und ziehe die Knie zu meiner Brust. Sogar ein kleiner Schluck aus seinem heißen Becher könnte mir den Tag versüßen.
Hoffnungslos starre ich das Logo meines Pappbechers an, welches einstBolder’s Gas Station lautete, doch nun ist nur noch die Hälfte der Buchstaben zu erkennen. Anhand dieses Namens brachte mir meine Mutter den Umgang mit Zahlen bei. Damals war ich ihrer Meinung nach jedoch noch zu jung, um bereits das Lesen und Schreiben zu lernen. Dann ging sie von uns. Ich würde lügen, wenn ich mir einredete, dass mein Bruder und ich es einfach hatten. Nie wussten wir, aus welchen Zutaten die Nudelsuppe aus dem Supermarkt bestand oder welche Bahn die richtige war. Wir spielten das Spiel »Errate die Zutaten«. Egal, für welche Suppe wir uns entschieden, es war immer eine Überraschung. Der alte Laden in der Nähe des Vauxhall Parks hatte lediglich Etiketten ohne Bilder, aber die Suppen waren die besten in ganz London. Jeden Freitag nutzten wir die Überreste unserer Einnahmen und gönnten uns einen Eintopf. Erst dann, wenn ich mit dem Taschenmesser die Dosen geöffnet hatte, konnten wir den Gewinner küren. Und in diesem Fall war es meistens mein kleiner Bruder. Lucas war darin immer besser als ich. Und als er mich dann vergangenen Winter verlassen hatte, war ich komplett auf mich allein gestellt, und zum Spielen blieb keine Zeit mehr. Ich kann es nicht fassen, dass meine Familie mich auf dieser verkümmerten, egoistischen Erde allein zurückgelassen hat.
Der Mann mit den überdimensional großen Ohren ist mit seinem heißen Becher verschwunden, und ich wette, dass sich unter seinem langen Mantel ein feiner Anzug versteckt hat. Aber das wird nur eine Vermutung bleiben.
»Entschuldigen Sie, haben Sie zufälligerweise ein wenig Restgeld für mein Mittagessen?« Ich hasse es, aufdringlich zu sein, aber ich sehe keinen Ausweg mehr. Die Ballade in meinem Bauch hat sich inzwischen zu einem lauten Rockkonzert ausgewachsen.
Die Mutter der beiden Kinder, die mich auf Augenhöhe von Kopf bis Fuß mit weit aufgerissenen Augen beobachten, schaut sich um, bis auch sie mich auf dem Boden kauernd in der schmalen Nische der Eisdiele entdeckt. Vorsichtig hebt sie ihre runde Sonnenbrille, um mich mit geneigtem Kopf nachdenklich zu mustern. Der kleine Junge mit den rosa Wangen beugt sich zu meinem Pappbecher hinunter, wird jedoch sofort von seiner Mutter zurückgehalten. Ich erschrecke wegen der unerwarteten Schnelligkeit in ihrer Bewegung.
»Fass das nicht an, George! Das fasst man nicht an!«, höre ich sie nur wiederholt fauchen.
»Was kannst du denn?«, fragt er mich, und die runden braunen Augen betrachten mich erwartungsvoll. Die sanfte Stimme ist Musik in meinen Ohren, und auch seine Schwester scheint ihr Interesse nun mir zu widmen. Ihr unsicherer Blick fällt auf mich und dann wieder auf ihren Bruder.
»I-Ich … also …«, stottere ich und bekomme keinen einzigen Satz heraus.Was kann ich denn schon?
»Komm, George!«<