EinleitungPflege bleibt systemrelevant
Als Kind habe ich eine Pflegefachkraft gefragt, was ihr Beruf für sie bedeuten würde. »Mit dem Herzen zu sehen«, sagte sie. Diese Frau war meine Mutter. Bis heute arbeitet sie in einem Seniorenheim, seit März2020 mit Maske, Schutzanzug und Handschuhen. Ich bin Journalist. Im Jahr2020 habe ich mit unzähligen Pflegefachkräften, aber auch Ärztinnen und Ärzten, Klinikleitungen und Heimbetreibern gesprochen. Ich konnte Pflegende während eines Streiks begleiten, war zu Besuch bei pflegenden Angehörigen und habe über eine Klinik geschrieben, die in der Pandemie geschlossen werden sollte. Ich habe über Angestellte berichtet, die eingeschüchtert wurden, weil sie Kritik an ihren Arbeitsbedingungen übten, über eine Fachkraft, die nach34 Jahren in Deutschland abgeschoben werden sollte, und über Menschen, die am Limit arbeiten mussten.[1]
In jungen Jahren wusste ich nichts über das System, nur dass altern in einem Seniorenheim ziemlich schön sein kann. Ich hatte18 Opas und Omas, spielte mittags nach dem Kindergarten mit ihnen Mau-Mau, half beim Kartoffelschälen für das Abendessen, hörte mir die Geschichten der Seniorinnen und Senioren an. Ich sah sie lachen und singen, sah die Pflegenden in ihrer Aufgabe aufgehen. Damals dachte ich: Wenn ich einmal alt bin, möchte ich auch hier leben, in der schönsten Wohngemeinschaft der Welt. Ich ahnte bereits, wie wichtig der Beruf meiner Eltern war, schon lange bevor man ihn systemrelevant nannte.
Doch das, was ich in meiner Kindheit erleben durfte, war ein Sonderfall in unserem System. Ein Pilotprojekt, ein kleines Haus mit Angestellten, die nicht nach der Stoppuhr pflegen mussten. Ein Pflegeheim, in dem es genug Personal gab und das keine Profite machen musste. Ein familiäres Haus, keine anonyme Pflegekette. Heute, mehr als zwanzig Jahre später, spreche ich mit Angestellten, die den Tränen nahe sind, wenn ihre Schicht endet. Mit Intensivpflegern, die erklären, dass sie täglich das Patientenwohl gefährden müssen. Mit Altenpflegerinnen, denen keine Zeit mehr bleibt, um mit dem Herzen zu sehen. Sie sagen zu mir Sätze wie »Wir zerbrechen an diesem Druck« oder »Der Patient fühlt sich sicher, weil er nicht weiß, wie überlastet wir sind«.[2]
1,7 Millionen Menschen arbeiten sozialversicherungspflichtig in Deutschland in der Pflege, davon mehr als eine Million in der Krankenpflege. Das klingt nach viel, doch weniger als die Hälfte davon arbeitet in Vollzeit.[3] Überall fehlen Pflegefachkräfte, während die Zahl der zu Pflegenden jährlich weiter steigt. In der Bundesrepublik fehlen laut dem Deutschen Pflegeverband heute schon200000 Pflegefachpersonen in Krankenhäusern, Seniorenheimen und ambulanten Diensten.[4] Die Bertelsmann Stiftung spricht von500000 fehlenden Fachkräften bis zum Jahr2030