Kopfsteinpflaster
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Hasso Grabner
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Kopfsteinpflaster
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EDITION digital
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9783965214378
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1
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CHF 7.80
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Historische Romane und Erzählungen
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German
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519
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Wasserzeichen
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PC/MAC/eReader/Tablet
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ePUB
Neu ist vieles für die Menschen in diesem Buch: da zieht ein siegreiches Heer ohne klingendes Spiel, in abgerissenen Uniformen, mit Pferdewagen und müde marschierenden Soldaten in eine Stadt ein, und die, die jahrelang im illegalen Kampf ihr Leben für die Sowjetunion einsetzten, müssen ebenso die deutsch-sowjetische Zusammenarbeit erst aufbauen wie die, die auf den Schlachtfeldern auch für die Befreiung der deutschen Arbeiterklasse ihr Leben wagten. Nun können Kommunisten zu dem Brotdieb nicht mehr sagen: Gebt ihm zu essen, dann wird er nicht mehr stehlen. Und Arbeiter müssen einen der ihren wieder absetzen und den alten Besitzer zurückholen; da fahren hungernde, bettelnde, schiebende Menschen einen Zug eher in die Stadt zurück, um noch abstimmen zu können. Da will Lene Nitzsche nicht Bäuerin werden, obwohl sie nicht weiß, wie sie ihr Kind satt kriegen soll; und Herbert Müller soll mit dem Mann Schulter an Schulter arbeiten, der mit seiner Frau lebte, als er in Gefangenschaft saß. Da sagen die, der Sozialismus sei jetzt nicht zu machen, die jahrelang ihr Leben für ihn riskierten; und der alte Sozialdemokrat Berthold Liebetrau lernt mit denen eine Partei bilden, mit denen er zwölf Jähre lang illegal kämpfte. Es ist eine Wiederbegegnung mit den Menschen aus dem Roman 'Die Zelle'. Hasso Grabner verschweigt nichts, er schlägt keine Bogen um heikle Fragen. Schwere, Leid und Irrwege dieser ersten Jahre nach dem 2. Weltkrieg begegnen uns in diesem spannenden Roman ebenso wie Humor und praktischer Sinn derer, die sie schufen. So wird lebendig, was für die meisten schon ferne Geschichte geworden ist.
Hasso Grabner Am 21.10.1911 in Leipzig geboren, Besuch der Mittelschule, Lehre als Buchhändler. 1929 Mitglied des KJVD, 1930 KPD-Mitglied. 1934 wurde er wegen der Teilnahme am antifaschistischen Widerstandskampf verhaftet und blieb bis 1938 im Zuchthaus Waldheim, danach bis 1940 KZ Buchenwald. 1942 kam er ins Strafbataillon 999. U. a. war er auf Korfu stationiert und arbeitete als Funker in Karousades. Dort half er griechischen Partisanen und warnte die Juden vor der Deportation. Er konnte der Erschießung entgehen, setzte sich in Sarajevo von der Truppe ab und kehrte über Österreich nach Leipzig zurück. Er beteiligte sich am Aufbau der Jugendausschüsse und der FDJ und wurde 1946 SED-Mitglied. Er hatte wechselnde Tätigkeiten: Intendant des Mitteldeutschen Rundfunks, Regierungsrat in Sachsen, Hauptdirektor der VESTA (Vereinigung Volkseigener Stahlwerke), Werkleiter im VEB Guss Köthen, Leiter des Aufbaustabes des Kombinats Schwarze Pumpe, Personalchef im Konstruktions- und Ingenieurbüro Leipzig. Von 1955 bis 1957 absolvierte er ein Fernstudium am Literaturinstitut 'Johannes R. Becher' und war seit 1958 freischaffender Schriftsteller. Grabner wurde mehrmals mit Parteistrafen belegt, seit 1961 vom MfS überwacht und erhielt nach dem 11. Plenum 1965 ein vorübergehendes Berufsverbot. Er war in zweiter Ehe mit der Schriftstellerin Sigrid Grabner verheiratet. Er starb am 3. April 1976 in Werder.
Das Weitermachen ohne Willy Schnabel war leicht und schwer zugleich gewesen. Leicht, weil die Kraft dieses Mannes ausreichte, seinen Leib zu überdauern. Schwer, weil jeder wusste, wie sehr er dennoch fehlte und immer fehlen würde. Seit jenem Sommer 1942 hatte es keinen Tag gegeben, an dem der Tote nicht vermisst worden war. Die Wasser der Zeit konnten sein Bild nicht auswaschen. Nun ist der Tag gekommen, an dem weit über den alten Sonntag hinaus alle Erinnerungen an Willy Schnabel stärker wach werden als je zuvor. Die Partei ruft ihre Mitglieder nach zwölf Jahren finsterster Illegalität zum ersten öffentlichen Appell. Auf diesen Appell haben sie sich an Nitzsches Krankenbett vorbereitet. Schon um Fritz dafür zu entschädigen, dass er nicht teilnehmen kann. Sie sind alle gekommen: Horst Schulze, Martin Langer, Karl Stenzel, Männe Runge, Selma Lauterbach, Mariechen Müller, Else Schnabel. Mariechen und Else gehören an sich nicht zur Zelle, doch sie haben mit ihr die ganze Illegalität verbracht. Bald werden sie irgendwo arbeiten und einer anderen Parteieinheit angehören. Jetzt zählen sie noch zu M& S, zu der Parteizelle, die zwölf Jahre hindurch ihren Zusammenhalt bewahrt und illegal gearbeitet hat. Horst Schulze ist nicht ohne Herzklopfen zu Nitzsche gegangen. Der Gedanke, Lene zu treffen, erregt und bedrückt ihn zugleich. Sie sind sich sehr nahe gewesen, und dann ist alles, was sie verbunden hat, wie Sand durch die Finger geronnen. Nun betragen sie sich gegeneinander und vor den anderen, als ob es zwischen ihnen niemals mehr gegeben hätte als Lenes mutige Hilfe. Trotz aller Mühe gelingt es ihnen nicht, sich unbefangen und herzlich gegenüberzutreten. Das erregt Fritz und Ella Nitzsches Misstrauen. Für sie ist Horst undankbar. Die Möglichkeit, dass ihr Lenchen die Ursache für die Spannung sein könnte, schließen sie aus. Lenchen ist ein einfacher, geradliniger Mensch, ein richtiges Arbeiterkind, und Horst ist ein Intelligenzler, ein Spinner, der sich oft genug als Querkopf erwiesen hat. Aber Partei ist Partei, und Privatangelegenheiten sind Privatangelegenheiten. Beides ist streng zu trennen. Deshalb hat Fritz Nitzsche während der Parteiversammlung an seinem Bett mit keiner Silbe auf die Differenzen zwischen dem Polleiter der Zelle und der Nitzschefamilie angespielt. Er ist betont kühl zu Horst Schulze gewesen. Das ist nicht weiter aufgefallen, Fritz hat nie besondere Sympathien für Horst gezeigt. Von Lene und dem Kind hat Horst nichts gesehen. Sie scheinen spazieren gewesen zu sein, er hat sie kommen und später auch den Jungen im Nebenzimmer schreien hören. Gern hätte er ihn einmal angeschaut und ist neidisch auf Else, Selma und Mariechen, die Mutter und Kind in ihrem Zimmer besuchen. Aus Mariechens Munde darf er sich anhören, was für ein schönes Kind an Lenes Brust liegt. Nun ja, das war auch kein Wunder. Der Bauernsohn und Oberfeldwebel Hellwig war ein schöner Mann. Horst hatte ihn in Zanzow aus seinem Heuversteck heraus mehrfach auf der Tenne stehen sehen. Verständlich, wenn sich Lene in ihn verknallt hatte. Die Genossinnen und Genossen haben sich völlig unbefangen gezeigt. Ihnen lag spießerhafte Neugier nicht. Wo Fritz Nitzsches Tochter das Kind her hatte, war deren Sache, und es ging keinen etwas an, wenn sie sich darüber in ungewissen Worten ausließ. Und was den Einzelnen nicht interessieren durfte, berührt die Zelle erst recht nicht. Ihre Zusammenkunft beschäftigt sich mit der Wiederaufnahme der Arbeit bei M& S und dem Fall Liebetraut. Zum ersten Tagesordnungspunkt gibt es nur eine Meinung: Anfangen. Dann beginnt der Streit, ob die Zelle Liebetraut auffordern sollte, am Parteiappell teilzunehmen. Wohl ist der ehemalige Betriebsratsvorsitzende vor 1933 ein unbelehrbarer Sozialdemokrat gewesen, aber zwölf Jahre Kampf gegen den Faschismus haben ihn mehr und mehr mit der Parteizelle in Übereinstimmung gebracht, spätestens seit dem Überfall auf die Sowjetunion gehört er ihr ohne Einschränkung an. Deswegen hat Horst Schulze sich dafür ausgesprochen, Liebetraut zum Appell mitzunehmen, um ihn in absehbarer Zeit für den Eintritt in die Partei zu gewinnen. Er kann seinen Vorschlag nur schwer durchsetzen. Nitzsche tritt energisch dagegen auf. 'Sozialdemokraten bleiben Sozialdemokraten; sobald sie ihre Suppe wieder im eigenen Feuer kochen können, schmeckt ihnen unsere nicht mehr. Du kennst die Brüder nicht, Horst.' Dieses 'Du kennst sie nicht' kann Horst Schulze nicht widerlegen. Er ist erst im zweiten Jahr der Illegalität zur Partei gestoßen. Dennoch verficht er seine Meinung, dass Genossen wie Liebetraut zur kommunistischen Partei gehörten. 'Unsere Partei hat Zehntausende Kämpfer verloren. Wie wollen wir sie ersetzen, wenn nicht mit Männern und Frauen, die sich im Kampf bewährt haben?' Das war ein Argument, dem Else und Mariechen sofort, Martin Langer und Männe Runge nach einigem Zögern zustimmten. So war die Entscheidung gefallen. Gegen die Stimme Nitsches, bei Stimmenthaltung Karl Stenzels, wird beschlossen, Bertold Liebetraut aufzufordern, am Parteiappell teilzunehmen. Horst ist über den Sieg nicht froh gewesen. Seine Meinung hat sich mit Hilfe der beiden Frauen durchgesetzt, die nicht bei M& S arbeiteten und der Betriebszelle in Kürze nicht mehr angehören würden. In all den Jahren hat er nicht die Autorität gewonnen, die Willy Schnabel besessen hat. Der Streit um Bertold Liebetraut wird durch Liebetraut selbst endgültig entschieden. Er lehnt ohne Schwanken ab. 'Meine Partei kommt auch wieder. Eben ein bisschen später. Die Arbeiterschaft braucht eine Sozialdemokratie. Ich möchte nicht, dass euch das Feld allein überlassen bleibt. Ihr springt mit den Leuten um, wie es euch passt.'