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Vielleicht merkt der Lehrer nicht, dass der Aufsatz gar nicht von meinem Vater handelt, dachte Sara. Sie hoffte jedenfalls, er werde nicht danach fragen. Denn sonst würde Mariette, das Mädchen in der Bank vor ihr, sich sofort umdrehen und anfangen zu fragen:
«Wo wohnt denn dein Vater? Warum wohnt er nicht bei euch? Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?»
Sara wusste dann nie, was sie antworten sollte.
Die Kinder glaubten, dass sie es nicht hörte, aber Sara merkte schon, wie sie die Köpfe zusammensteckten und tuschelten:
«Sara hat keinen Vater.»
«Saras Vater will nicht bei ihr wohnen.»
Weil sie von ihrem Vater so gut wie nichts wusste, hatte Sara einen Aufsatz über ihren Großvater geschrieben.
Seit drei Jahren lebte sie mit ihrer Mutter bei ihm in dem großen Haus. Kurz vorher war ihre Großmutter gestorben, und der Großvater war traurig und einsam und kümmerte sich kaum noch um sich selbst. Da meinte Saras Mutter, dass es auch für Sara netter wäre, nicht immer allein zu sein, wenn sie selbst zur Arbeit ging. Und so zogen sie in das große Haus.
Sara hatte versucht, einen guten Aufsatz zu schreiben. Sie erzählte, dass «er» früher als Kapitän zur See gefahren war, jetzt aber immer zu Hause blieb (weil er pensioniert worden war, aber das schrieb sie lieber nicht dazu), und dass «er» das ganze Haus mit Kisten, Figuren und Schifffahrtsgeräten voll gepackt hatte, damit es noch ein wenig so aussah, als ob er auf einem Schiff wohnte. Sie schrieb auch, dass «er» fast den ganzen Tag in seinem Arbeitszimmer saß und an einem Stammbaum arbeitete. Sie erklärte sogar, dass ein Stammbaum eine lange Liste mit den Namen der Familienmitglieder ist. Alle standen sie darauf: Sara, ihre Mutter und darüber Saras Großvater und Großmutter und darüber deren Vater und Mutter und Geschwister.
An einigen Stellen des Stammbaums stand ein Fragezeichen, und das bedeutete, dass «er» nicht wusste, wie die Leute hießen. Wo der Name von Saras Vater hätte stehen sollen, war auch ein Fragezeichen. Das hatte sie aber lieber nicht in dem Aufsatz geschrieben. Nirgends hatte sie in dem Aufsatz gelogen. Sie hatte immer nur «er» geschrieben und niemals «mein Vater».
Die Aufsätze der anderen Kinder trugen den Titel: «Mein Vater». Über Saras Aufsatz stand: «Wer ist er?»
«Dein Vater wird sich freuen, Mariette!», sagte der Lehrer freundlich und gab Mariette ihren Aufsatz zurück. Rechts oben stand eine große Eins. Mariette schaute sich voller Stolz um. Der Lehrer kam zu Sara. Als Erstes sah sie, dass der ganze Aufsatz mit roten Korrekturen voll gekritzelt war. Darüber sprang ihr eine Vier förmlich in die Augen. Sara nahm das Blatt und wollte es gleich wegstecken, aber der Lehrer blieb stehen.
«Handelt der Aufsatz von deinem Großvater, Sara?», fragte er.
Er hatte es also gemerkt. Sara nickte.
«Ist das der Großvater, der sagt, dass du manche Dinge gar nicht zu wissen brauchst, weil du sie nachschlagen kannst?»
Sara spürte, wie die Kinder sie anstarrten.
«Es ist eine gute Geschichte, Sara. Nur schade, dass du so viele Schreibfehler gemacht hast, nicht wahr?» Der Lehrer schaute sie ernst an. Sara beugte sich über den Aufsatz, und der Lehrer ging weiter.
«Zeig mal her!» Mariette hatte sich tatsächlich schon wieder umgedreht.
Zögernd schob Sara das Blatt zu ihr hin.
«Mensch, so viele Fehler! Ich würde nie wagen, meinem Vater so was zu zeigen», sagte Mariette. Plötzlich sah sie Sara scharf an. «Aber du hast doch gar keinen Vater!», schrillte ihre Stimme durch die Klasse.
Sara riss ihr den Aufsatz aus den Händen.
«Klar habe ich einen Vater!»
«Ach ja, und wo ist er denn?»
«In Südafrika.»
«In S