: Antonia Michaelis
: Die Wiederentdeckung des Glücks Roman
: Verlagsgruppe Droemer Knaur
: 9783426460740
: 1
: CHF 17.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 336
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Können wir Glück recyceln? Ebenso poetisch wie eindringlich erzählt Antonia Michaelis? Gesellschaftsroman von vier Menschen, deren Lebenswege sich auf Madagaskar immer wieder kreuzen, und die einander den Mut geben, Grenzen zu überschreiten und ihre Fesseln abzustreifen. Kleider, Flaschen, Schuhe - alles kann man recyceln. Warum nicht auch das Glück? Einst war Madagaskar ein Paradies, heute ist die Insel vor der Küste Afrikas fast komplett abgeholzt und bettelarm - und lebt vom Recycling. Vielleicht webt das Schicksal deshalb genau hier vier Lebenswege ineinander, um am Ende ihre Ketten zu sprengen? Da ist der Straßenjunge Biscuit, der sich einfach weigert, seine Träume aufzugeben. Da ist die junge Maribelle, die nie gelernt hat, Träume zu haben - bis sie die Kraft ihres Willens entdeckt. Und da sind Terje und seine Tochter Nora aus Deutschland, die gleich zwei Mal alles in Bewegung setzen werden. Antonia Michaelis hat selbst einige Zeit auf Madagaskar gelebt. Mit »Die Wiederentdeckung des Glücks« hat die preisgekrönte Autorin einen lebensklugen, tief bewegenden Gesellschaftsroman über Empowerment geschrieben, der noch lange im Gedächtnis bleibt.

Antonia Michaelis begann bereits als Kind zu schreiben. Sie ist eine renommierte Autorin von zahlreichen Büchern und Theaterstücken für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Antonia Michaelis hat mit ihrer Familie zwei Jahre auf Madagaskar gelebt und dort eine Schule für mittellose Kinder mitaufgebaut. Mittlerweile lebt sie in einem Dorf nahe der Insel Usedom. www.antonia-michaelis.de

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Und dann fielen sie also von der Kälte des Meeres, der großen Freiheit des Horizonts, mitten hinein in die Wärme, das Chaos in einem staubigen Flughafen: Antananarivo, die Stadt der Tausend.

Die Stadt der tausend Menschen, so hatten sie sie einst genannt.

»Die Stadt der tausend Silben«, sagte Nora, ein wenig erschöpft, als sie in der unendlichen Schlange vor der Passkontrolle standen.

»Die Stadt der tausend Stempel«, sagte Terje und nickte zu den Beamten hin. »Die Stadt der tausend Ämter und tausend Schlangen.«

»Sie werden uns doch aber reinlassen?«, sagte Nora. Sie sah so hübsch aus, in ihrem kurzen sonnengelben Kleid, hübsch und ein wenig zerknittert nach dem langen Flug, ein wenig übernächtigt. Es nahm ihr etwas von ihrer gewöhnlichen Perfektion. Ihrer Unnahbarkeit.

»Wir haben ein Visum«, sagte sie, fast trotzig.

»Ja. Wenn sie nichts daran auszusetzen finden, lassen sie uns rein«, sagte Terje und fuhr mit dem kleinen Schlüsselanhänger-Fahrrad über seinen Ärmel. »Wenn sie etwas daran auszusetzen haben, kostet es. Oder sagen wir: Wenn einer von ihnen gerade Geld braucht, wird er etwas an den Visa auszusetzen finden.«

»Das können sie nicht machen!« Nora strich das Kleid glatt. »Das wäre Bestechung! Es wäre Unrecht!«

»Weißt du«, sagte Terje sanft, »irgendwo auf dem Flug, irgendwo da oben überschreitet man eine Grenze zwischen zwei Welten. Hier funktionieren die Dinge anders. Die Zeit zum Beispiel. Sie vergeht langsamer. Manchmal auch sprunghaft. Und Dinge wie Recht, Gerechtigkeit. All das gehorcht nicht denselben Regeln wie in unserer Welt.«

Nora sah ihn an, als wäre er möglicherweise auf dem langen Flug verrückt geworden.

Terje schob mit dem Fuß einen der niedrigen Betonpfosten beiseite, zwischen denen ein Absperrseil gespannt war, das die Menschenschlange leitete. Der Betonpfosten war eine Wasserflasche, in die jemand Zement gegossen hatte. »Es gibt hier sogar ein physikalisches Gesetz mehr als bei uns«, sagte Terje und sah die Wasserflasche an, fast zärtlich. »Alles kann recycelt werden.«

»Das ist kein physikalisches Gesetz, Terje.« Sie schob ihren eleganten, weißen Hartschalenkoffer in der Schlange vorwärts.

»Es ist die Grundlage aller Physik auf diesem Kontinent«, sagte er ernst. »Alles kann recycelt werden. Merk dir das. Masse, Zeit, Geschwindigkeit, Beschleunigung. Sogar Relativität.«

»Liebe?«, flüsterte sie, ganz leise. »Kann Liebe recycelt werden?«

»Wenn Liebe eine physikalische Größe ist, dann auf jeden Fall«, sagte er.

 

Und endlich hatten ihre Pässe den letzten Stempel, endlich war ihr Gepäck durchsucht worden, endlich hatten sich die Beamten genug über Noras Sammlung winziger Glasfläschchen gewundert, aber auch nach vier Telefonaten keinen Grund finden können, sie zu beschlagnahmen, sodass sie nach der Entrichtung eines rasch erfunden Glasflascheneinfuhrzolls von zweihundert Euro in die Freiheit entlassen wurden.

Die Freiheit bestand aus einer Horde Gepäckträgern, die alle ihren Trolley zum Taxi schieben wollten. Und einer Horde Taxifahrern, die sie alle zu einem Hotel fahren wollten, und da man sich nicht einigen konnte, wer schob und wer zog und welches Taxi genommen wurde, gab es eine lautstarke Diskussion voller Gesten und Rufe.

Terje brauchte keine Träger, er trug sein Gepäck auf dem Rücken: einen uralten olivgrünen Segeltuchrucksack. Die drei Rollkoffer, weiß, gelb, cremefarben, gehörten Nora, die die Gepäckdiskussion kopfschüttelnd verfolgte. »Lass ihnen den Spaß«, sagte Terje. »Für fünf Minuten.«

Und dann schloss er die Augen und atmete die Luft ein, die er so gut kannte: eine Mischung aus Abgasen, Ruß, Kohlefeuern, Müll, sonnenwarmem Asphalt, Staub.

In seiner Hand drehte er den Schlüsselanhänger: das winzige Fahrrad.

Und